Populationsökologie - Der Ursprung der Variabilität



Bio-News vom 10.06.2020

LMU-Wissenschaftler zeigen, dass Populationsschwankungen in der Vergangenheit die genetische Variabilität heutiger Robbengemeinschaften maßgeblich beeinflussten, und haben deren Risiko für genetische Verarmung abgeschätzt.

Die Evolution hat im Lauf der Erdgeschichte eine große biologische Vielfalt hervorgebracht, sodass sich artenreiche und komplexe Ökosysteme entwickeln konnten. Eine wichtige Grundlage dieser Vielfalt sind genetische Variationen: Je größer die genetische Variabilität einer Population ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich an neue Umweltbedingungen anpassen und evolutiv entfalten kann. Wissenschaftler um den LMU-Evolutionsbiologen Jochen Wolf haben die genetische Variabilität zahlreicher Robbenarten untersucht und zeigen, dass ein großer Teil der heutigen Variation maßgeblich durch historische Schwankungen der Populationsgrößen beeinflusst wurde.


Kolonie von Kegelrobben.

Publikation:


Claire R. Peart, Sergio Tusso, Saurabh D. Pophaly, Fidel Botero-Castro, Chi-Chih Wu, David Aurioles-Gamboa, Amy B. Baird, John W. Bickham, Jaume Forcada, Filippo Galimberti, Neil J. Gemmell, Joseph I. Hoffman, Kit M. Kovacs, Mervi Kunnasranta, Christian Lydersen, Tommi Nyman, Larissa Rosa de Oliviera, Anthony J. Orr, Simona Sanvito, Mia Valtonen, Aaron B. A. Shafer and Jochen B. W. Wolf
Determinants of genetic variation across eco-evolutionary scales in pinnipeds
Nat Ecol Evol (2020)

DOI: 10.1038/s41559-020-1215-5



Wie die Wissenschaftler berichten, kann mithilfe der Ergebnisse der Genomanalysen zudem ein Parameter berechnet werden, mit dem sich abgeschätzen lässt, ob Populationen durch genetische Verarmung und Inzucht bedroht sind.

Genetische Variation entsteht durch zufällige Mutationen, die dann von Generation zu Generation weitergegeben werden. Gleichzeitig können Mutationen auch wieder verlorengehen, etwa durch sogenannte Flaschenhalseffekte, bei denen ein Großteil der Population verlorengeht. „Grundsätzlich geht man davon aus, dass in Populationen mit vielen Individuen auch eine hohe genetische Variabilität entstehen kann“, sagt Wolf. „Wir haben dies nun für 17 Robbenarten untersucht und die genetischen Unterschiede zwischen insgesamt 458 Tieren aus 36 Populationen analysiert.“

Da die genetischen Variationen in heutigen Populationen viel über die gemeinsamen Vorfahren der Tiere verraten, konnten die Wissenschaftler aus den genetischen Daten rückschließen, inwiefern sich die Populationen im Lauf der Zeit verändert haben. „Das ist wie ein Mikroskop in die Vergangenheit“, sagt Wolf. „Je unterschiedlicher die Gene sind, desto weiter zurück in der Vergangenheit lebte der letzte gemeinsame Vorfahr der Tiere. Unsere Analysen reichen Tausende bis Millionen von Jahren zurück und wir konnten sehen, dass manche Populationen durch sehr starke Flaschenhälse gegangen, also stark dezimiert worden sind und andere wiederum starke Populationsausweitungen erfahren hatten.“

Als Maß für die genetische Variation innerhalb einer Population berechneten die Wissenschaftler die sogenannte effektive Population. Darunter versteht man die Anzahl von Tieren, die in einer theoretisch idealen Population dasselbe Ausmaß an genetischer Varianz aufweisen wie die tatsächliche Population. Die effektive Population hängt mit der tatsächlichen Populationsgröße zusammen, ist aber viel kleiner als diese. Sie wird von zusätzlichen Faktoren wie dem Fortpflanzungsverhalten beeinflusst: Männchen einiger Robbenarten etwa konkurrieren stark um Weibchen, sodass sich weniger dominante Männchen nicht fortpflanzen und die genetische Variation dadurch reduziert wird. „Wir haben auch solche Effekte geprüft, aber unsere Analysen zeigen, dass die genetische Variation der Robben tatsächlich hauptsächlich durch die historischen Schwankungen der Populationsgröße beeinflusst wurde, die wahrscheinlich mit Klimaveränderungen zusammenhängen“, sagt Wolf.

Der Quotient aus effektiver und tatsächlicher Populationsgröße wird oft herangezogen, um Rückschlüsse zu ziehen, ob in einer Population genügend Variabilität vorhanden ist, um in der Zukunft zu überleben. Ein sehr kleiner Quotient ist dabei ein Warnsignal, weil bei geringer genetischer Variation sehr schnell Inzuchteffekte auftreten, die unter anderem zu einer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten führen. „Die meisten naturschutzfachlichen Studien betrachten die genetische Variabilität allerdings nur über wenige Generationen hinweg“, sagt Wolf. „In unserer Studie, die ja weit in die Vergangenheit zurückreicht, konnten wir Populationsschwankungen in der Vergangenheit miteinbeziehen und berechnen, welche Populationsgröße und damit genetische Variabilität wir heute erwarten würden.“

Diese erwartete Populationsgröße verglichen die Forscher in einem komplexen statistischen Verfahren mit der heute tatsächlich vorhandenen und konnten so einschätzen, ob die heutige Population im Verhältnis zur erwarteten kleiner oder größer ist. „Daraus kann man ablesen, ob die Population gefährdet ist, weil die heutige Zahl der Individuen einfach viel zu klein für die Art ist“, sagt Wolf. Die absolute Zahl der Individuen ist dafür oft kein sicheres Indiz: Die Saimaa-Ringelrobbe beispielsweise hat einen Bestand von nur 400 Tieren und wird als stark gefährdete Art angesehen.

„Aus genetischer Sicht sind allerdings trotz der geringen Individuenzahl zunächst keine Probleme zu erwarten, da die Tiere noch hochvariabel sind“, sagt Wolf. „Sie sind wohl erst vor evolutionär gesehen kurzer Zeit in ihren heutigen Lebensraum eingewandert und tragen noch die ganze Variation ihrer Vorfahren in sich.“ Anders liegt der Fall auf Galapagos: Auch dort gibt es heute nur sehr wenige Robben, allerdings ist deren genetische Variabilität zudem gering – ein Alarmsignal, das der herkömmliche Quotient aus effektiver und tatsächlicher Population nicht widerspiegelt. Nach Ansicht der Wissenschaftler zeigen die Ergebnisse der Studie, dass vergleichende Populationsgenomanalysen ein wichtiges Werkzeug sein können, um gefährdete Populationen zu identifizieren und möglicherweise Schutzmaßnahmen einzuleiten.


Diese Newsmeldung wurde mit Material der Ludwig-Maximilians-Universität München via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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