Selbstregulation

Der Begriff Selbstregulation bezeichnet auf Selbstreflexion beruhende Fähigkeiten, die notwendig sind, eigene Gedanken, Gefühle, Motive und Handlungen zielgerichtet zu beeinflussen. Er wird häufig als Synonym für Volition oder Willenskraft verwendet. Das Prinzip der Selbstregulierung wurde aus den Paradigmen der Homöostase und Kybernetik unter anderem durch Frederick Kanfer, Paul Karoly und Albert Bandura in den 1970er Jahren entwickelt. Im Gegensatz zur Steuerung, beschreibt der Begriff Regulierung lernfähige Systeme, die sich durch Feedback an veränderte Rahmenbedingungen anpassen und trotz dieser „Störungen“ (Soll-Ist-Abweichungen) ihr (selbst gesetztes) Ziel erreichen können.[1]

Biologie

Der Grundgedanke der Selbstregulation stammt aus der Biologie und gilt als ein grundlegendes Funktionsprinzip lebender Organismen. Sie findet beispielsweise in der Physiologie des menschlichen und des tierischen Körpers fortlaufend statt, meist bei Veränderung statischer Zustände und von uns unbemerkt. Beispiele sind:

  • Anstieg von Blutdruck und Herzfrequenz beim Wechsel von liegender in stehende Position
  • Vermehrte Atmung bei körperlicher Anstrengung, um dem Körper mehr Sauerstoff zuzuführen
  • Bei Hypoglykämie (Unterzuckerung) setzt der Körper drastische Selbstregulationsmechanismen in Kraft (z. B. Ausschüttung von Adrenalin, mit der Folge von Zittern und starkem Schwitzen), um die Glukosekonzentration aufrechtzuerhalten und einen drohenden hypoglykämischen Schock zu verhindern.

Physiologie und Psychologie

Das Grundprinzip der Regelung (im Vergleich zur Steuerung) basiert auf der Rückmeldung der Abweichung des Sollwertes vom Istwert, damit das System das angesteuerte Ziel erreichen kann. Rainer Klinke und Co-Autoren[2] veranschaulichen diesen Zusammenhang an folgendem Beispiel: Mit Steuerung ist das gemeint, was ein Seemann macht, wenn er das Schiff in die Himmelsrichtung steuert, in der das Ziel liegt. Das ist allerdings nur in dem wenig realistischen Fall möglich, in dem keine störenden Hindernisse, Strömungen und veränderte Windrichtungen auftreten. Vielmehr muss der Kapitän wiederholt die tatsächliche mit der gewünschten Position vergleichen und so den Kurs korrigieren. Diese Ergänzung der Steuerung durch Rückmeldung des Erreichten nennt man Regelung. Erfolgt die Vorgabe des Sollwertes von außen, muss sich das System durch eine Verhaltensänderung anpassen, es muss lernen. Eine andere Form des Lernens liegt vor, wenn Systeme ihre Sollwerte aus der Veränderung des Umfeldes ableiten. Dazu benötigen sie einen Speicher bzw. ein Gedächtnis für Erfahrungen, den sie für künftiges Verhalten nutzen. Somit umfasst der Begriff Selbstregulierung nach Eran Magen und James Gross die Fähigkeiten, (1) selbstständig Ziele zu setzen, (2) den Unterschied zwischen Soll- und Istzustand festzustellen, (3) geeignete Aktionen zu planen, auszuwählen und auszuüben, (4) für entsprechende „Belohnungen“ zu sorgen und schließlich (5) das System mit der erforderlichen Energie auszustatten (Aktivierung).

Beispiele für die praktische Anwendung dieses Prinzips auf menschliches Verhalten sind die Konzepte der Volition in der Psychologie und im Management (siehe Volition (Psychologie) und Volition (Management)).[3]

Modell der Selbstregulation nach Kanfer

Frederick Kanfer geht davon aus, dass Selbstregulation immer dann einsetzt, wenn eine Person ein Ziel erreichen will und auf diesem Weg Hindernisse auftreten, oder wenn ein gewohnter Verhaltensfluss unterbrochen wird. In beiden Fällen richtet der Betroffene seine Aufmerksamkeit auf sein Verhalten[4]S. 37-38. Die Hauptkomponenten des Selbstregulationsmodells nach Kanfer sind[4]S.38

  • Selbstbeobachtung (Informationen über die eigenen Handlungen werden eingeholt)
  • Selbstbewertung (Vergleich dieser Informationen mit allgemeinen Standards)
  • Selbstverstärkung (Kontingenz, positive oder negative Konsequenzen)

Dieser Prozess kann mehrfach durchlaufen werden, bis eine Reaktion den persönlichen Standards entspricht.

Dieses – ursprünglich lineare – Modell wurde seit 1970 mehrfach überarbeitet. Es wurden Feedback-Schleifen (Vergleich von Reaktion, Konsequenzen und Situation mit Standards bzw. früheren Erfahrungen) eingeführt, somit handelt es sich nicht mehr um ein rein sequentielles Modell. Zudem wurde die Rolle von Attributionsprozessen (d.h. der Einschätzung der Person, ob das Problem überhaupt durch ihr Verhalten beeinflussbar ist) sowie von Erwartungen und Befürchtungen (Antizipation) mit berücksichtigt.[4]S. 37–41.

Ein Spezialfall der Selbstregulation ist die Selbstkontrolle. Diese wird nach Kanfer angewandt, wenn es sich um Verhaltensalternativen handelt, die für die Person konflikthaft sind, und sie – ohne äußeren Druck – die Verhaltensalternative mit der geringeren Auftretenswahrscheinlichkeit wählt (z.B. Ablehnen einer Zigarette trotz Verlangen danach). Hierbei wird nicht ein Persönlichkeitsmerkmal („Willenskraft“) beschrieben, sondern ein spezifisches Verhalten in einer bestimmten Situation. Bei der Auslösung und der Aufrechterhaltung des Verhaltens spielen jedoch sowohl innere Aspekte (wie z.B. Motivation, körperliche Faktoren) als auch Umgebungsfaktoren (z.B. gesellschaftliche Normen) eine große Rolle.[4]S. 41–43.

Das Modell der Selbstregulation bildet eine wichtige theoretische Basis der von Kanfer entwickelten Selbstmanagement-Therapie.[4]S. 43.

Pädagogik

Selbstregulation ist ein Begriff, der in der Pädagogik der 1970er Jahre eine zentrale Rolle spielte (Gerhard Bott: Erziehung zum Ungehorsam (Film, 1969); Terror aus dem Kinderladen (Film, 1972); A. S. Neill: Antiautoritäre Erziehung am Beispiel Alexander S. Neill’s Summerhill). Das Konzept beinhaltete, dass Kinder sich ohne bedeutende Einwirkungen durch Erziehende zum gesellschaftsfähigen Individuum entwickeln. Erziehende sind nur noch zuständig, wenn es um den Schutz des Kindes geht. Autorität dagegen, die die Erziehung in die Hand nimmt, ist nicht mehr von Bedeutung oder unerwünscht, da sich Kinder frei und selbstständig zum Individuum entwickeln bzw. selbst herausfinden, wie sie sich in der Welt zurechtfinden. Auch soziale Regeln werden in Gruppenprozessen und ohne Einwirkung des Erziehenden formuliert. Der Erziehende sollte oder darf nicht mehr als derjenige auftreten, der Erziehungsprozesse steuert und die Ziele vorgibt.

Beispiele für diese Form der Erziehung waren die „Kinderläden“, das waren Einrichtungen die Kinder meist im Alter zwischen 3 und 6 Jahren aufnahmen. Kinderläden waren meist eingetragene Elternvereine, die die Erziehungskonzepte zusammen mit den dort arbeitenden Erziehern entwickelten.

Literatur

  • Roy F. Baumeister, Kathleen D. Vohs (Hrsg.): Handbook of self-regulation, research, theory and applications. Guilford Publications, New York 2004, ISBN 1-57230-991-1.
  • Joseph P. Forgas u.a. (Hrsg.): Psychology of Self-Regulation. Psychology Press, New York 2009, ISBN 978-1-84872-842-4.
  • Rick H. Hoyle (Hrsg.): Handbook of Personality and Self-Regulation. Blackwell Publishing, Malden, Mass. 2010, ISBN 978-1-4051-7712-2.
  • Jörg Martin, Jörg Hardy, Stephan Cartier (Hrsg.): Welt im Fluss. Fallstudien zum Modell der Homöostase. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-515-08980-7.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Synopse verschiedener Artikel aus: Rick H. Hoyle (ed.): Handbook of Personality and Self-Regulaltion, Willey-Blackwell: 2010
  2. R. Klinke, H.-C. Pape, S. Silbernagl (Hrsg.): Physiologie. 5. Auflage. Stuttgart/New York 2005.
  3. Eran Magen, James Gross: The cybernetic process model of self-control. und Paul Karoly: Goal systems and self-regulation. In: Rick H. Hoyle (Hrsg.): Handbook of Personality and Self-Regulation. Blackwell Publishing, 2010.
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 F.H. Kanfer, H. Reinecker, D. Schmelzer: Selbstmanagement-Therapie. 3. Aufl. Springer, Berlin 2000, ISBN 3-540-66446-7.

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