Thalidomid


Strukturformel
Struktur von Thalidomid
Allgemeines
Freiname Thalidomid
Andere Namen
  • 2-(2,6-Dioxo-3-piperidyl)isoindol-1,3-dion
  • (RS)-2-(2,6-Dioxopiperidin-3-yl)isoindol-1,3-dion (IUPAC)
  • α-Phthalimidoglutarimid
  • 3-Phthalimidopiperidin-2,6-dion
  • N-Phthalylglutaminsäureamid
Summenformel C13H10N2O4
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 50-35-1
PubChem 5426
DrugBank APRD01251
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Arzneistoffangaben
ATC-Code

L04AX02

Wirkstoffklasse

Sedativum, Hypnotikum, Immunsuppressivum

Eigenschaften
Molare Masse 258,23 g·mol−1
Schmelzpunkt

269–271 °C[1]

Sicherheitshinweise
Bitte die Befreiung von der Kennzeichnungspflicht für Arzneimittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Lebensmittel und Futtermittel beachten
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung [2]

Gefahr

H- und P-Sätze H: 301​‐​312​‐​361
P: 280​‐​301+310 [2]
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Thalidomid (α-Phthalimidoglutarimid) ist ein Arzneistoff, der als Schlaf- und Beruhigungsmittel unter den Markennamen Contergan und Softenon verkauft wurde und Ende der 1950er/Anfang der 1960er-Jahre zu zahlreichen schweren Schädigungen an ungeborenem Leben (Dysmelien, etc.) und damit zum Contergan-Skandal führte. Chemisch gesehen gehört es, wie auch Glutethimid, Methyprylon und Pyrithyldion, zur Gruppe der Piperidindione, einer strukturellen Abwandlung der Barbiturate. Außerdem verfügt der Wirkstoff zur schlaffördernden Wirkung über tumorwachstumshemmende, entzündungshemmende und blutgefäßneubildungshemmende Eigenschaften. Seit dem Jahre 1998 wird Thalidomid in den USA zur Behandlung besonders schwerer Lepraformen und seit 2009 in Deutschland zur Behandlung des multiplen Myeloms unter Beachtung strenger Sicherheitsauflagen verwendet und wird von der Firma Celgene als Generikum angeboten.

Geschichte

Schlaf- und Beruhigungsmedikament

Im März 1954 wurde in der Forschungsabteilung des Stolberger Pharmaunternehmens Grünenthal – auf der Suche nach einer günstigen Methode zur Gewinnung von Antibiotika aus Peptiden und im Rahmen der damaligen Entwicklung neuartiger Schlafmittel wie Persedon[4] und Glutethimid – durch die Erhitzung des Phthaloylisoglutamin von Heinrich Mückter, Wilhelm Kunz (geb. 1920) und Herbert Keller (geb. 1925) das Phthalimidoglutarimid synthetisiert.[5] Es erhielt durch den Leiter der Forschungsabteilung, Mückter, den Namen Thalidomid[6] und bestritt im Dezember 1960 fast die Hälfte des Inlandsumsatzes von Grünenthal.[5]

Die Forschungsergebnisse von Grünenthal erbrachten für Thalidomid keine pathogenen Reaktionen oder andere positive in der Heilkunde verwertbare Ergebnisse bei (nicht trächtigen) Mäusen und Ratten. Somit schien für Grünenthal der Wirkstoff harmlos zu sein. Auch zeigten hohe Dosen keine tödliche Wirkung bei Ratten, Mäusen, Meerschweinchen, Kaninchen, Katzen und Hunden, und es wurden bei Grünenthal auch keine anderen Nebenwirkungen festgestellt. Thalidomid wurde somit als „untoxisch“ eingestuft, was für eine kommerzielle Auswertung sehr attraktiv ist. Es wurde begonnen, für die patentierte Verbindung eine Anwendung zu finden. Thalidomid stellte sich in Tierversuchen zunächst nicht als sedativ dar. Da ein nicht letales Sedativum ein großes Marktpotential haben würde, entschied die Firma, die Forschung in Richtung eines Human-Schlafmittels zu intensivieren.[6]

Zunächst wurde es zur Anfallsprophylaxe bei Epilepsie verschrieben. Es zeigte zwar keine antikonvulsive Wirkung, die Patienten berichteten jedoch von der guten schlafbringenden und entspannenden Eigenschaft des Medikamentes.[6][7]

Thalidomid durfte in Deutschland nicht verkauft werden, solange nicht seine Wirkung im Tierversuch getestet wurde. Da im Tierversuch Thalidomid keine sedierende Wirkung zeigte, wurde es an Mäusen im Schüttelkäfig getestet. Dabei wurde untersucht, inwiefern sich die Bewegungen der Mäuse in der Verum-Gruppe (Gruppe, die den Wirkstoff bekam), und der Placebogruppe unterschieden.[6]

Bevor das Mittel auf den Markt kam, nahm ein Grünenthal-Mitarbeiter eine Probe mit nach Hause und gab seiner schwangeren Frau davon, um ihr zu einem besseren Schlaf zu verhelfen. Das Kind kam ohne Ohren zur Welt und wurde so zum ersten Contergan-Opfer.[6][7]

Grünenthal vermarktete die Substanz vom 1. Oktober 1957 bis Ende 1961 unter dem Namen Contergan als „erstes bromfreies Schlaf- und Beruhigungsmedikament ohne größere Nebenwirkungen“. Da Contergan unter anderem auch gegen die typische morgendliche Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase half, wurde es Ende der 1950er-Jahre gezielt als das Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen und beworben. Im Hinblick auf Nebenwirkungen galt es als besonders sicher, denn als bromfreies Schlafmittel sollten Nebenwirkungen wie Verwirrtheitszustände, Delirien und Stottern ausbleiben. Thalidomid war auch in den Medikamenten Algosediv, Grippex und, als Bestandteil von Grünenthal geliefert, in dem Hustenmedikament Peracon der Kali Chemie enthalten.[8]

Contergan-Skandal

Ende der 1950er-Jahre kam es zu einer zunächst unerklärlichen Häufung von Missbildungen Neugeborener. In der Öffentlichkeit und bei dem im Verlauf der Zeit erst neugegründeteten deutschen Bundesgesundheitsministerium wurde eine mögliche Schädigung durch Kernenergie und insbesondere die damals oberirdisch verlaufenden Kernwaffentests vermutet. Dabei wurde die Rate von Fehlbildungen bei Kindern untersucht und eine Zunahme statistisch verneint, allerdings mit Daten, die nur bis zum Zeitpunkt der Marktzulassung von Thalidomid reichten. Aufgrund dieser Statistik glaubte man bei den neu aufgetretenen Schädigungen erst an eine zufällige Häufung, was die Ursachenforschung deutlich verzögerte.[9]

Dass die Schädigungen eine Folge des Wirkstoffs Thalidomid waren, wurde unabhängig voneinander in Deutschland, Großbritannien und Australien entdeckt. Der Humangenetiker Widukind Lenz, der zu den Entdeckern dieses Zusammenhanges zählt, veröffentlichte seine Erkenntnisse auf einem Kongress und machte dadurch den Skandal publik.[10] Die Firma Grünenthal reagierte zunächst nicht auf die Warnungen. Obwohl dem Stolberger Herstellerunternehmen 1961 bereits 1.600 Warnungen über beobachtete Fehlbildungen an Neugeborenen vorlagen, wurde Contergan nach wie vor vertrieben. Zu jenem Zeitpunkt hatte es 46 % des Marktes für barbituratfreie Schlafmittel erobert. Erst nach einem Zeitungsartikel in der Welt am Sonntag vom 26. November 1961 zog Grünenthal schließlich am darauffolgenden Tag Contergan aus dem Handel – allerdings war das Unternehmen nach eigenen Angaben bereits am 16. November von Lenz in Kenntnis gesetzt worden.

Laut Bundesverband Contergangeschädigter wurden etwa 5000 contergangeschädigte Kinder geboren. Andere Quellen sprechen von 10.000 Fällen weltweit, von denen 4000 auf die Bundesrepublik Deutschland entfielen, wovon die Hälfte bereits verstorben sei. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Fehlgeburten. In der DDR hatte der Zentrale Gutachterausschuss für das Arzneimittelwesen die Herstellung und den Vertrieb von Schlafmitteln auf Basis von Thalidomid abgelehnt, da man dieses als noch nicht ausreichend überprüft einstufte.[11] Einige wenige Conterganpackungen gelangten aus der Bundesrepublik in die DDR. Insgesamt sind in der DDR acht Fälle von Missbildungen dokumentiert, die durch Contergan bedingt waren.[12]

In Österreich und in der Schweiz hieß das Mittel Softenon und war verschreibungspflichtig. Offiziell gibt es in Österreich dreizehn Contergan-Opfer, da man hier damals sehr restriktiv mit der Rezeptpflicht umging. In der Schweiz wurden neun contergangeschädigte Kinder geboren.[13] Softenon wurde 1962 vom Markt genommen.

Auch in Brasilien gibt es anerkannte Schadensfälle durch Thalidomid.[14] Contergan wurde auch in größeren Mengen nach Osteuropa und Vorderasien geliefert.[15]

In den USA wurde Contergan die Zulassung verweigert, es wurde aber in großen Mengen „zu Testzwecken“ verteilt, nachdem der amerikanische Hersteller Richardson-Merrell die Zulassung im September 1960 erstmals beantragt hatte. Frances Oldham Kelsey, die zuständige Pharmakologin der US-Gesundheitsbehörde Food and Drug Administration hatte sich nicht auf die Angaben der Firma Richardson-Merrell verlassen, die keine Testergebnisse beinhalteten. Stattdessen wurden nur generelle Aussagen Grünenthals und des Marketing-Departments von Richardson-Merrell angegeben, und Geschäftsleute und Politiker übten Druck auf Kelsey aus. Sie forderte Richardson-Merrell auf, Tests durchzuführen und die Ergebnisse mitzuteilen. Die Firma weigerte sich und verlangte insgesamt sechs Mal, die Zulassung zu gestatten, was jedes Mal abschlägig beschieden wurde. Im Jahre 1962 zog Richardson-Merrell dann den Antrag auf Zulassung zurück. Trotzdem wurden insgesamt 17 Kinder mit Contergan-bedingten Missbildungen geboren.[16]

Die geballte Medienpräsenz des Themas, die durch den 50. Jahrestag der Markteinführung von Contergan und den kurz darauf ausgestrahlten Fernsehzweiteiler Eine einzige Tablette erzeugt wurde, führte am 7. Dezember 2007 – also 46 Jahre nach Bekanntwerden der schädigenden Wirkung – zu ersten Gesprächen zwischen Grünenthal und dem Bundesverband der Contergangeschädigten.[17][18] Auch andere Geschädigte fordern zum Dialog auf und haben dazu eine das Zitat des Produzenten des Zweiteilers aufgreifende Online-Unterschriften-Aktion gestartet.[19] Betroffenen-Verbände hoffen als Ergebnis auch auf finanzielle und andere Verbesserungen ihrer Situation.[20] Zum 1. Juli 2008 wurde die Verdoppelung der monatlichen Entschädigungszahlungen umgesetzt. Dies wird von Politik und Verbänden als „erster wichtiger Schritt“ zur Milderung der „finanziellen Auswirkungen der Spät- und Folgeschäden“ [21] bezeichnet.[22] Am 8. Mai 2008 gab Grünenthal bekannt, freiwillig 50 Mio. Euro in die Conterganstiftung einzahlen zu wollen, um die Lebenssituation der Contergan-Geschädigten dauerhaft verbessern zu helfen.[23] Dies wurde am 15. Juli 2009 umgesetzt.[24]

Schädigungen durch Thalidomid

Thalidomid führt, innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft eingenommen, zu schweren Fehlbildungen[25] der Gliedmaßen (Dysmelien, wie beispielsweise radiale Klumphand), speziell zum Fehlen von Röhrenknochen (Phokomelie), oder sogar zum totalen Fehlen (Aplasien) von Gliedmaßen und Organen der Kinder. Thalidomid blockiert den Wachstumsfaktor VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor), wodurch es zu einer fehlenden Vaskularisierung (Blutgefäßbildung) in den Extremitäten des Embryos kommt. Dies führt zu einer verkürzten oder fehlenden Anlage der Arme und Beine, meist beidseitig. Zu unterscheiden ist dies von einer mechanischen Abschnürung von Gliedmaßen (siehe dazu Amniotisches-Band-Syndrom).

Als direktes, teratogenes Target wurde das Protein Cereblon identifiziert, das mit weiteren Proteinen einen Ubiquitin-Ligase-Komplex bildet. Dieser Komplex steuert auch die Morphogenese von Gliedmaßen, und die Hemmung der Ligaseaktivität durch Bindung von Thalidomid an Cereblon ist eine der biologischen Hauptursachen der Missbildungen.[26][27] Dieser Mechanismus wurde im Jahr 2010 bekannt.

Bei der Thalidomid-Embryopathie ist besonders gut untersucht, zu welchem Zeitpunkt der Einwirkung des Medikaments welche Schädigung verursacht wird[25]: zwischen dem 34. und 38. Tag nach der letzten Regelblutung kommt es zu einem Fehlen der Ohrmuschel und zu einer Lähmung des Gesichtsnervs (Facialisparese), zwischen dem 40. und 44. Tag treten Arm-, zwischen dem 43. und 46. Tag Bein- und zwischen dem 48. und 50. Tag Daumenfehlbildungen und eine Verengung des Enddarms auf. Die Dosis ist für das Ausmaß der Schädigung nicht relevant.

In der Zeit nach 1961, nachdem Contergan vom Markt zurückgezogen wurde, wurde es weiterhin an verschiedenen Tierarten getestet. Die Resultate waren größtenteils negativ oder zeigten keine vergleichbaren Fehlbildungen am Nachwuchs. Obwohl Ratten und Mäuse durch die Substanz sediert wurden (der Grund, weshalb man überhaupt auf die sedierende Wirkung des Thalidomid gekommen war, lag darin, dass bei einem Versuch, bei dem eine völlig andere Wirkung des Wirkstoffes untersucht werden sollte, die Nagetiere, die Thalidomid erhielten, wider Erwarten einschliefen), konnte auch in klassischen Tierversuchen mit hoher Konzentration keine fruchtschädigende Wirkung des Präparates nachgewiesen werden. Erst viel später nach der Contergankatastrophe zeigte sich bei Weißen Neuseeländern – einer Kaninchenrasse, die als Versuchstier vor Markteinführung überhaupt nicht als Tiermodell üblich war – eine teratogene Wirkung. Diese dadurch nachgewiesene Artspezifität einer teratogenen Wirkung war bis dato unbekannt und stellt bis heute ein Dilemma bei der Übertragbarkeit von Tierversuchsergebnissen auf den Menschen dar.

Die Befürchtung, dass Thalidomid durch Veränderung des Erbgutes auch nachfolgende Generationen schädigen könnte, hat sich nicht bewahrheitet. Die Kinder thalidomidgeschädigter Menschen sind von dem Thalidomid-Syndrom nicht betroffen. Eine vor einigen Jahren auftauchende Pressemeldung zur angeblichen Vererbbarkeit wurde von Experten als nicht seriös bezeichnet und beruhte vermutlich auf der Verwechslung mit anderen, gelegentlich thalidomid-ähnlichen Behinderungen.

Beim einnehmenden Patienten selbst kann sich eine Polyneuropathie ausbilden, welche bei den neuen Indikationen den bedeutendsten dosislimitierenden Faktor darstellt. Sie kann sich schnell und vollständig zurückbilden, aber auch über Jahre bestehen bleiben.[28]

In mehr als 2000 Forschungsberichten sind die Ergebnisse von Studien niedergeschrieben worden, die seit 1961 den molekularen Mechanismus der Fruchtschädigung zu fassen suchten,[29] und mehr als dreißig Hypothesen zur Erklärung der Schäden wurden aufgestellt.[27]

Unterschiedliche Wirkung von (S)- und (R)-Enantiomer

Die beiden Enantiomere des Thalidomids:
Links: (S)-Thalidomid Rechts: (R)-Thalidomid
Ablauf der Racemisierung.

Thalidomid ist eine chirale Verbindung, die als Racemat verkauft wurde. Die sedierende Wirkung kommt dem (+)-(R)-Enantiomeren zu,[30] die fruchtschädigende Wirkung wird dem (−)-(S)-Enantiomeren zugeschrieben. Beide Enantiomere wandeln sich im Körper zügig ineinander um – sie racemisieren.[31] Die Einnahme ausschließlich (R)-konfigurierter Substanz bleibt in der Praxis bedeutungslos, da sie die fruchtschädigende Wirkung nicht zu unterbinden vermag. Das (S)-Enantiomer wird allerdings wesentlich schneller ausgeschieden als sein optisches Gegenstück.[32]

Neue Indikationen

In klinischen Studien zeigte Thalidomid aufgrund seiner antiinflammatorischen (entzündungshemmenden), antineoplastischen (tumorhemmenden) und antiangiogenetischen (Verminderung von Gefäßneubildung) Wirksamkeit therapeutische Effekte bei verschiedenen Krankheiten. Dazu gehören unter anderem Hauterkrankungen (Erythema nodosum leprosum, Lupus erythematodes), das multiple Myelom sowie Autoimmunerkrankungen.[9][33] Bei korrekter Anwendung kann Thalidomid eine hilfreiche Therapie für Patienten sein, für deren Krankheiten keine adäquate Behandlung existiert.[34]

Bei an Prostata-Krebs erkrankten Patienten, die sich einer intermittierenden Hormonblockade unterzogen, führte die Gabe von Thalidomid zu einer Verlängerung der Zeit bis zum Wiederanstieg des PSA-Wertes (als Zeichen einer erneuten Aktivität des Karzinoms).[35]

Lepra

Im Jahre 1964 fand der israelische Hautarzt Jacob Sheskin, der einer Lepra-Patientin Contergan aus Restbeständen verabreichte, heraus, dass sich ihre Geschwüre am nächsten Tag deutlich zurückgebildet hatten.[33] Bedingt durch diese Entdeckung wurde Thalidomid für diese Indikation getestet, vor allem in südamerikanischen Ländern wie Kolumbien und Brasilien. Unglücklicherweise kam es dabei auch zu erneuten Fehlbildungen bei Neugeborenen. Da die Rate der Analphabeten in Brasilien extrem hoch ist, missverstanden viele Frauen das Etikett mit einer durchgestrichenen schwangeren Frau auf der Verpackung als Antibabypille. Dadurch kam es in Brasilien zu einer neuen Generation schwer fehlgebildeter Kinder. Infolgedessen verbot Brasilien zunächst die Herausgabe von Thalidomid an Menschen im fortpflanzungsfähigen Alter. In Brasilien gibt es insgesamt 480 anerkannte Schadensfälle durch Contergan.[36] Heute hat sich Thalidomid in Brasilien als verschreibungspflichtige Standardmedikation gegen Lepra durchgesetzt; es gilt als das wirksamste Mittel gegen die Erkrankung.

1998 beschied in den USA die Food and Drug Administration einen Zulassungsantrag positiv für ein Thalidomid-haltiges Arzneimittel zur Behandlung des Erythema Nodosum Leprosum (ENL), einer besonders schweren Verlaufsform der Lepra. Der Zulassungsinhaber Celgene hat für strenge therapiebegleitende Sicherheitsvorkehrungen zu sorgen. Ein Patient, der daran teilnimmt, muss strenge Auflagen akzeptieren und einhalten.

Multiples Myelom

Inzwischen wurde die Indikation um die Behandlung des multiplen Myeloms erweitert.[37][38] Nachdem Thalidomid 2001 bereits als so genanntes „Arzneimittel für seltene Leiden“ (orphan drug) ausgewiesen und als solches in das entsprechende EU-Gemeinschaftsregister eingetragen wurde, erteilte die EU-Kommission im April 2008 die Zulassung für eine orale Darreichungsform (50 mg Hartkapseln) zur Kombinationstherapie mit Melphalan und Prednison von Patienten mit nicht vorbehandelten multiplen Myelomen ab 65 Jahren oder Patienten, bei denen eine hoch dosierte Chemotherapie nicht in Betracht gezogen werden kann (Zulassungsinhaber: Pharmion Ltd.).[39]

Myelodysplastisches Syndrom

Die Gabe von Thalidomid zur Behandlung des myelodysplastischen Syndroms wird in multizentrischen Studien geprüft. Ein genauer Wirkmechanismus ist noch nicht bekannt, besteht aber möglicherweise in der Hemmung des Tumornekrosefaktor (TNF-α) und Stimulation von zytotoxischen T-Zellen. Vorläufige Daten zeigen, dass Thalidomid bei vielen Patienten zu einer Verbesserung der peripheren Blutzellwerte führen kann. Einige Patienten erreichen eine vollständige Normalisierung des Blutbilds.

Vertrieb

Außer in den USA (seit 1998) ist Thalidomid zurzeit in Australien (seit Oktober 2003), Neuseeland (seit Dezember 2003), der Türkei (seit Juni 2004), Israel (seit September 2004) und in den Mitgliedstaaten der EU (seit April 2008) zugelassen. In den USA, China, Japan, Korea und Taiwan wird Thalidomid durch die Firma Celgene vertrieben. Diese produziert auch das dem Thalidomid ähnliche Lenalidomid. Für alle übrigen Länder hatte die britische Firma Pharmion die Vermarktungsrechte von Celgene erworben. Anfang 2008 jedoch übernahm Celgene die Firma Pharmion mit ihrem gesamten Produktportfolio. Ehemals auslizenzierte Produkte wie z.B. Thalidomid werden nun wieder ausschließlich von Celgene betreut.[40] Die Anwendung erfolgt unter strengen Sicherheitsrichtlinien.

In Deutschland ist die Abgabe thalidomidhaltiger Arzneimittel durch den § 3a der Arzneimittelverschreibungsverordnung reguliert und unterliegt der amtlichen Überwachung. Deshalb muss der Arzt für die Verordnung das so genannte T-Rezept verwenden. Es darf jeweils nur ein Präparat pro T-Rezept verordnet werden.[41] Der Arzt muss versichern, die Sicherheitsmaßnahmen gemäß der aktuellen Fachinformation einzuhalten, insbesondere auch, erforderlichenfalls ein Schwangerschafts-Präventionsprogramm durchzuführen. Ferner muss er auf der Verschreibung vermerken, ob die Behandlung innerhalb oder außerhalb (Off-Label-Use) der jeweils zugelassenen Anwendungsgebiete erfolgt.[42] Thalidomid- oder lenalidomidhaltige Arzneimittel dürfen nicht im Wege des Versandhandels in den Verkehr gebracht werden, § 17 Abs. 2b Apothekenbetriebsordnung.

Das Unternehmen Chemie Grünenthal GmbH, das einst Contergan produzierte, verschenkte[43] Restbestände des Mittels noch bis Ende 2003 an Wissenschaftler. Die inzwischen in Aachen beheimatete Firma vertreibt heute jedoch kein Thalidomid mehr.

Siehe auch

Literatur

  • K. Roth: Eine unendliche chemische Geschichte, in: Chemie in unserer Zeit, Jahrgang 2005, Nr. 39, S. 212–217, Wiley-VCH, Weinheim, ISSN 1521-3781, doi:10.1002/ciuz.200590038.
  • Catia Monser: Contergan, Thalidomid. Ein Unglück kommt selten allein. Eggcup, Düsseldorf 1993, ISBN 3-930004-00-3, Buch einer Betroffenen.
  • Beate Kirk: Der Contergan-Fall. Eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1999, ISBN 3-8047-1681-4 (= Greifswalder Schriften zur Geschichte der Pharmazie und Sozialpharmazie, Band 1, Zugleich Dissertation an der Universität Greifswald, 1998).
  • Ludwig Zichner, M. A. Rauschmann, K. D. Thomann u. a. (Hrsg.): Die Contergankatastrophe. Eine Bilanz nach 40 Jahren. In: Jahrbuch Deutsches Orthopädisches Geschichts- und Forschungsmuseum, Frankfurt am Main. Band 6. Steinkopff, Darmstadt 2005, ISBN 978-3-7985-1479-9.
  • Henning Sjöstrom, Robert Nilsson: Thalidomide and the Power of the Drug Companies.Penguin Books, 1972; deutsche Übersetzung: Contergan oder die Macht der Arzneimittelkonzerne. VEB Verlag Volk und Gesundheit, Berlin(Ost) 1975
  • Takumi Ito et al.: Identification of a Primary Target of Thalidomide Teratogenicity. In: Science 327 (2010) no. 5971, pp. 1345-1350; doi:10.1126/science.1177319.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Eintrag zu Thalidomid in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA (JavaScript erforderlich).
  2. 2,0 2,1 Datenblatt (±)-Thalidomide bei Sigma-Aldrich (PDF).Vorlage:Sigma-Aldrich/Abruf nicht angegeben
  3. Eintrag zu Thalidomid in der ChemIDplus-Datenbank der United States National Library of Medicine (NLM).
  4. Dtsch med Wochenschr 1950; 75(33/34): 1084-1085 ; doi:10.1055/s-0028-1117619
  5. 5,0 5,1 Wolf-Dieter Müller Jahnke, Christoph Friedrich, Ulrich Meyer: Arzneimittelgeschichte, S. 146. 2. überarb. und erw. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-8047-2113-5.
  6. 6,0 6,1 6,2 6,3 6,4 William Silverman, MD: The Schizophrenic Career of a "Monster Drug". In: Pediatrics. 110. Jahrgang, Nr. 2, 22. April 2002, S. 404–406 (aappublications.org [abgerufen am 21. September 2006]).
  7. 7,0 7,1 T. Stephens und R. Brynner: Dark Remedy – The Impact of Thalidomide and Its Revival as a Vital Medicine. Cambridge, MA; Perseus Publishing; 2001, ISBN 978-0-7382-0590-8.
  8. Dietrich Böhm: Die Entschädigung der Contergan-Kinder. S. 159, Vorländer Verlag Siegen, 1973, angegeben in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie: Kinder- Körper- Identitäten: Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel, S.168. Hrsg.: Heinz Hengst. Beltz Juventa Verlag, Weinheim 2003, ISBN 978-3-7799-0225-6. Online: eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  9. 9,0 9,1 http://www.aerzteblatt.de/archiv/57224/ Klaus-Dieter Thomann, Die Contergan-Katastrophe: Die trügerische Sicherheit der „harten“ Daten THEMEN DER ZEIT
  10. W. von Lenz, K. Knapp: Die Thalidomid-Embryopathie. Deutsche medizinische Wochenschrift, Stuttgart, 1962, 87(24): 1232-1242.
  11. Vgl. Huhn, Klaus: Laut Gutachten überflüssig : warum es in der DDR kein Contergan gab..
  12. Vgl. Auch in der DDR gab es Kinder mit Missbildungen : Bundesverband: Die Betroffenen wünschen keine Öffentlichkeit.
  13. Vgl. Angelika Overath, Das Janusgesicht, Contergan, in: NZZ Folio 04/01 – Thema Pillen
  14. Vgl. Hallberg, Stefanie: Vom Horrormittel zum Hoffnungsträger : Comeback des Conterganwirkstoffs Thalidomid..
  15. Vgl. Contergan politisch kein Thema : Ausschlussfrist abgelaufen...
  16. Vgl. Linda Bren: Frances Oldham Kelsey: FDA Medical Reviewer Leaves Her Mark on History (Artikel im FDA Consumer magazine, March-April 2001).
  17. Pressemitteilung des Bundesverbandes.
  18. Pressemeldungen in der Aachener Zeitung.
  19. Unterschriften-Aktion.
  20. Forderungskatalog des Bundesverbandes, neben dem weitere anderer Verbände existieren.
  21. Pressemitteilung des Familienministeriums zur Verdoppelung.
  22. Bundesverband zur Verdoppelung
  23. Pressemitteilung Grünenthal: „Grünenthal bietet Contergan-Betroffenen 50 Millionen Euro an - Lösung soll Lebenssituation der Betroffenen verbessern“ Pressemitteilung der Grünenthal GmbH (PDF).
  24. Pressemitteilung RP-Online: "Grünenthal zahlt erneut 50 Millionen Euro für Contergan-Opfer" RP Online.
  25. 25,0 25,1 Fehlbildungen in Abhängigkeit vom Tag der Einnahme der Tablette
  26. Ito T, Ando H, Suzuki T, et al.: Identification of a primary target of thalidomide teratogenicity. In: Science. 327. Jahrgang, Nr. 5971, März 2010, S. 1345–50, doi:10.1126/science.1177319, PMID 20223979.
  27. 27,0 27,1 Ito T, Ando H, Handa H: Teratogenic effects of thalidomide: molecular mechanisms. In: Cell. Mol. Life Sci. 68. Jahrgang, Nr. 9, 2011, S. 1569–79, doi:10.1007/s00018-010-0619-9, PMID 21207098.
  28. Empfehlungen zur Anwendung von Thalidomid bei Patienten mit einem multiplen Myelom, Konsensusgruppe der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie und der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie
  29. Stand: Jahr 2000. Stephens TD, Bunde CJ, Fillmore BJ: Mechanism of action in thalidomide teratogenesis. In: Biochem. Pharmacol. 59. Jahrgang, Nr. 12, 2000, S. 1489–99, PMID 10799645.
  30. T. Eriksson, S. Björkman, B. Roth, P. Höglund: Intravenous formulations of the enantiomers of thalidomide: pharmacokinetic and initial pharmacodynamic characterization in man. In: J. Pharm. Pharmacol. 52. Jahrgang, Nr. 7, 2000, S. 807–17, PMID 10933131.
  31. M. Reist, P. A. Carrupt, E. Francotte, B. Testa: Chiral inversion and hydrolysis of thalidomide: mechanisms and catalysis by bases and serum albumin, and chiral stability of teratogenic metabolites. In: Chem. Res. Toxicol. 11. Jahrgang, Nr. 12, 1998, S. 1521–8, doi:10.1021/tx9801817, PMID 9860497.
  32. T. Eriksson, S. Björkman, B. Roth, A. Fyge, P. Höglund: Stereospecific determination, chiral inversion in vitro and pharmacokinetics in humans of the enantiomers of thalidomide. In: Chirality. 7. Jahrgang, Nr. 1, 1995, S. 44–52, doi:10.1002/chir.530070109, PMID 7702998.
  33. 33,0 33,1 Silverman WA:The schizophrenic career of a „monster drug“. Pediatrics. 2002 Aug;110(2 Pt 1):404-6. PMID 12165600
  34. L. Calabrese, A. B. Fleischer: Thalidomide: current and potential clinical applications. In: The American journal of medicine. Band 108, Nummer 6, April 2000, S. 487–495, ISSN 0002-9343. PMID 10781782. (Review).
  35. W. D. Figg, M. H. Hussain u. a.: A double-blind randomized crossover study of oral thalidomide versus placebo for androgen dependent prostate cancer treated with intermittent androgen ablation. In: The Journal of urology. Band 181, Nummer 3, März 2009, S. 1104–1113, ISSN 1527-3792. doi:10.1016/j.juro.2008.11.026. PMID 19167733. PMC 2838198 (freier Volltext).
  36. Vgl. S. Hallberg: Vom Horrormittel zum Hoffnungsträger: Comeback des Conterganwirkstoffs Thalidomid.
  37. S. Singhal, J. Mehta u. a.: Antitumor activity of thalidomide in refractory multiple myeloma. In: The New England Journal of Medicine. Band 341, Nummer 21, November 1999, S. 1565–1571, ISSN 0028-4793. doi:10.1056/NEJM199911183412102. PMID 10564685.
  38. T. Hideshima, D. Chauhan u. a.: Thalidomide and its analogs overcome drug resistance of human multiple myeloma cells to conventional therapy. In: Blood. Band 96, Nummer 9, November 2000, S. 2943–2950, ISSN 0006-4971. PMID 11049970.
  39. Monatlicher Bericht von der Plenarsitzung des CHMP. 6. Mai 2008 (PDF, englisch).
  40. Pressemitteilung von Celgene Inc..
  41. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Bekanntmachung zur Arzneimittelverschreibungsverordnung vom 17. Juni 2011, BAnz. S. 99 vom 6. Juli 2011, S. 2415.
  42. Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) § 3a.
  43. FOCUS Heft 18 (1994) Link FOCUS-Online.

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