Präformationslehre


Homunculus des niederländischen Wissenschaftlers Nicolas Hartsoeker

Die Präformationslehre oder Präformationstheorie (prae: „vor, voraus“ und formatio: „Gestaltung, Bildung“) ist eine entwicklungsbiologische Theorie, die in der Antike von dem griechischen Philosophen Anaxagoras vertreten wurde und in der Neuzeit im 17. Jahrhundert wieder auftrat und dann bis in das 19. Jahrhundert hinein vorherrschend war. Eine weitere damals übliche Bezeichnung war Evolutionslehre, wobei „Evolution“ aber eine ganz andere Bedeutung hatte als heute. Die Präformisten nahmen an, dass der gesamte Organismus im Spermium (Animalkulisten) bzw. im Ei (Ovisten oder Ovulisten) vorgebildet sei und sich nur noch entfalten und wachsen müsse. Dem stand die Theorie der Epigenese gegenüber, wonach sich die Strukturen und Organe eines Organismus erst im Verlauf der Individualentwicklung ausbilden. Die Epigenese war seit der Antike und bis in das 17. Jahrhundert hinein die herrschende Meinung gewesen, wurde dann aber im Zuge der Aufklärung als nicht mehr plausibel durch präformistische Vorstellungen abgelöst. Erst im frühen 19. Jahrhundert konnte sie sich erneut als bis heute herrschende Anschauung etablieren.

Lebewesen galten im 17. Jahrhundert als unteilbare Individuen. Die heute selbstverständliche Vorstellung der Fortpflanzung kam erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf.[1] Bis dahin betrachtete man die „Zeugung“ eines Lebewesens als einen Schöpfungsakt, der grundsätzlich eines göttlichen Eingriffs bedurfte. Dabei unterschied man die Urzeugung, durch welche „niedere“ Tiere (etwa Würmer, Insekten, Schlangen und Mäuse) aus toter Materie hervorzugehen schienen, von der „Samenzeugung“ beim Menschen und bei höheren Tieren, die eines Mutterleibs bedurfte.[2] Für letztere formulierte erstmals Giuseppe degli Aromatari (1587–1660) 1625 die Vorstellung, dass ein Organismus bereits vor seiner Zeugung „vorgeformt“ (präformiert) sein könnte und sich nur noch entfalten müsse.[3] Aromatari stütze sich dabei auf Untersuchungen von Pflanzen, in deren Samen und Zwiebeln er die Tochterpflänzchen schon vorgebildet sah, und übertrug das spekulativ auf Tiere und Menschen. Nach dieser Ansicht hatte der göttliche Eingriff bereits bei der Erschaffung der Welt stattgefunden, bei der alle bisherigen und zukünftigen Generationen nach dem Prinzip der russischen Matrjoschka-Puppen ineinandergeschachtelt geschaffen wurden. Dies entsprach dem Zeitgeist, der die metaphysischen Lehren der Scholastik und der Antike (Aristoteles) zu überwinden trachtete und das Ideal einer mechanistischen Naturerklärung verfolgte, und fand daher schnell Anklang. Aufgrund der Vorstellung, dass die vorgebildeten Organismen lediglich „ausgewickelt“ (lat. evolvere) werden müssten, sprach man im 17. und 18. Jahrhundert anstelle von Präformation oder Präformismus auch von Evolution, womit „Evolutionslehre“ damals eine ganz andere Bedeutung hatte als heute.

Starke Unterstützung erfuhr die Präformationslehre durch mikroskopische Untersuchungen. So untersuchte Marcello Malpighi die Entwicklung des Embryos im Hühnerei und deutete diese als Wachstum bereits präformierter Strukturen. Nach der Entdeckung des Spermiums (1677) entstanden Darstellungen wie diejenige von Nicolas Hartsoeker, der den gesamten Embryo als Homunculus in einen Spermienkopf hineinzeichnete. Animalkulisten wie Hartsoeker, Gottfried Wilhelm Leibniz und Antoni van Leeuwenhoek postulierten, dass alle künftigen Generationen im Spermium präformiert seien und der weibliche Organismus nur die Nahrungsgrundlage biete. Umgekehrt glaubten Ovisten wie Malpighi, Jan Swammerdam und Antonio Vallisneri (1661–1730) den künftigen Organismus im Ei vorgebildet zu sehen, und sie schrieben dem Spermium nur eine anregende Funktion zu.

Widerspruch gegen die Präformationslehre gab es im 17. Jahrhundert nur vereinzelt; zu nennen sind William Harvey und René Descartes.[4] Harvey hatte schon vor Malpighi die Entwicklung des Hühnerembryos studiert und als allmähliche Differenzierung von Organen aus homogener Materie (Epigenese) beschrieben. Seine Darstellung war jedoch dadurch diskreditiert, dass er in aristotelischer Tradition ein metaphysisches formbildendes Prinzip postulierte. Ähnlich verhielt es sich mit Descartes, der in diesem Zusammenhang von „animalischen Geistern“ (esprits animaux) sprach. Diskutiert wurde daher fast ausschließlich darüber, ob die künftigen Generationen im Ei oder im Spermium vorgebildet seien.

Auch im 18. Jahrhundert blieb die Präformationslehre fast ohne Alternative.[5] Inzwischen war der Glaube an die Urzeugung überwunden, und man hielt es für unmöglich, dass auf natürlichem Weg aus homogener Materie komplizierte Lebewesen hervorgehen könnten. Weiterhin war aber die Schöpfungslehre des Alten Testaments die Grundlage derartiger Überlegungen. Daher erschien es unausweichlich, die Erschaffung aller (auch zukünftig gezeugter) Organismen an den Anfang der Welt zu verlegen, und 1710 prägte Nicolas Andry de Boisregard den Begriff der Einschachtelung (frz. emboîtement). Zur Stützung dieser Anschauung wurden viele empirische „Beweise“ beigebracht, so etwa der Bericht von Charles Bonnet (1740), dass weibliche Blattläuse sich über mehrere Generationen ohne Männchen fortpflanzen können (Parthenogenese), oder die Beschreibung der kugelförmigen Alge Volvox, bei der mehrere Generationen ineinandergeschachtelt zu sehen sein können. Bonnets Untersuchung entschied zudem den Streit der Ovisten und Animalkulisten zugunsten der ersteren.[6]

Einwände gegen die Präformationslehre, wie sie im 18. Jahrhundert etwa von Pierre Louis Moreau de Maupertuis, John Turberville Needham und Georges-Louis Leclerc de Buffon vorgebracht wurden, waren zumeist rein spekulativ und wurden als unwissenschaftlich und sachlich falsch abgewiesen. Eine Ausnahme war die erneute Untersuchung der Embryonalentwicklung des Huhns durch Caspar Friedrich Wolff, der detaillierter als zuvor Harvey aufzeigte, dass der Hühnerembryo sich aus undifferenziertem Gewebe entwickelt und keineswegs schon vorgebildet ist. Auch Wolffs Kritik wurde jedoch von den tonangebenden Vertretern der Präformationslehre zurückgewiesen.[7]

Zur Überwindung dieser Lehre kam es erst im frühen 19. Jahrhundert, vor allem aufgrund weiterer embryologischer Arbeiten von Christian Heinrich Pander (1817) und Karl Ernst von Baer (1828), bei denen diese die Bedeutung der Keimblätter erkannten.

Einzelnachweise

  1. François Jacob: Die Logik des Lebenden – Von der Urzeugung zum genetischen Code, Frankfurt/Main 1972, S. 27f
  2. Jacob, S. 32f
  3. Ilse Jahn, Rolf Löther, Konrad Senglaub (Hrsg.): Geschichte der Biologie, 2. Aufl., Jena 1985, S. 219
  4. Jahn al., S. 218-220
  5. Jahn & al., S. 230-249
  6. Jacob, S. 72
  7. Jahn & al., S. 245

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