Bestimmte Tierarten können ohne sexuelle Fortpflanzung erfolgreich überleben



Bio-News vom 21.09.2021

Internationales Forschungsteam weist erstmals anhand einer Hornmilbenart nach, dass Tiere über sehr lange Zeiträume – möglicherweise über Jahrmillionen – ganz ohne Sex überleben können. Veröffentlichung in PNAS

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts erstmals bei der Hornmilbenart Oppiella nova herausgefunden, dass auch asexuelle Fortpflanzung langfristig erfolgreich sein kann. Bisher galt das Überleben einer Tierart über einen geologisch langen Zeitraum ganz ohne sexuelle Fortpflanzung evolutionsbiologisch als sehr unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Das Team aus Zoologinnen und Zoologen und Forschenden von den Universitäten Köln und Göttingen sowie der Schweizer Universität in Lausanne und der Universität Montpellier in Frankreich wies jedoch bei der uralt asexuellen Hornmilbenart O. nova erstmals den sogenannten Meselson-Effekt bei Tieren nach. Der Meselson-Effekt beschreibt ein charakteristisches Muster im Erbgut eines Organismus, das auf rein asexuelle Fortpflanzung schließen lässt.


Symbolbild "Fortpflanzung"

Publikation:


Alexander Brandt, Patrick Tran Van, Christian Bluhm, Yoann Anselmetti et al.
Haplotype divergence supports long-term asexuality in the oribatid mite Oppiella nova
PNAS September 21, 2021 118 (38) e2101485118

DOI: 10.1073/pnas.2101485118



In der genetischen Vielfalt, die das Zusammentreffen zweier unterschiedlicher Genome durch ein Elternpaar bei den Nachkommen erzeugt, wurde bisher der große evolutionäre Vorteil der sexuellen Fortpflanzung gesehen. Bei Organismen mit zwei Chromosomensätzen, also zwei Kopien des Genoms in jeder Zelle, wie zum Beispiel bei Menschen und den sich sexuell fortpflanzenden Hornmilbenarten, sorgt Sex für eine konstante „Durchmischung“ der beiden Kopien. So wird zwar genetische Vielfalt zwischen verschiedenen Individuen erzeugt, doch die beiden Erbgut-Kopien innerhalb eines Individuums bleiben sich im Durchschnitt sehr ähnlich.

Doch auch asexuell reproduzierenden Arten, die genetische Klone von sich selbst erzeugen, ist es möglich, genetische Varianz in ihr Erbgut zu bringen und sich somit im Laufe der Evolution an ihre Umwelt anzupassen. Allerdings führt das Fehlen sexueller Fortpflanzung und damit der „Durchmischung“ bei asexuellen Tierarten dazu, dass die beiden Genomkopien unabhängig voneinander Mutationen, also Veränderungen in der genetischen Information ansammeln und innerhalb ein und desselben Individuums immer unterschiedlicher werden. Die beiden Kopien evolvieren unabhängig voneinander. Der Meselson-Effekt beschreibt den Nachweis dieser Unterschiede in den Chromosomensätzen rein asexueller Arten. „Das klingt vielleicht simpel. In der Praxis ist der Meselson-Effekt aber bei Tieren noch nie schlüssig gezeigt worden – bis jetzt“, erklärt Prof. Tanja Schwander vom Department of Ecology and Evolution der Universität Lausanne.

Uralt asexuelle Tierarten wie O. nova bringen Forschenden in Erklärungsnot, denn asexuelle Fortpflanzung scheint auf lange Sicht sehr unvorteilhaft zu sein. Wie sonst könnte man erklären, dass sich fast alle Tierarten rein sexuell fortpflanzen? Tierarten wie O. nova, die ausschließlich aus Weibchen bestehen, werden daher auch als „uralt asexuelle Skandale“ bezeichnet. Zu belegen, dass die uralt asexuellen Skandale sich auch wirklich, wie angenommen, ausschließlich asexuell fortpflanzen (und ob sie dies auch schon so lange tun), ist ein sehr komplexes Unterfangen: Denn, so Erstautor der Studie Dr. Alexander Brandt von der Universität Lausanne: „Es könnte beispielsweise eine Art von ‚kryptischem‘ sexuellem Austausch geben, den man nicht kennt. Oder noch nicht kennt. Zum Beispiel indem sehr selten doch mal ein fortpflanzungsfähiges Männchen produziert wird – möglicherweise sogar ‚aus Versehen‘.“ Eine rein asexuelle Fortpflanzung hinterlässt jedoch – zumindest theoretisch – eine besonders charakteristische Spur im Erbgut, eben jenen Meselson-Effekt.

Für ihre Studie haben die Forscherinnen und Forscher verschiedene Populationen von Oppiella nova und ihrer nahe verwandten, aber sich sexuell reproduzierenden Schwesterart Oppiella subpectinata in Deutschland gesammelt und deren genetische Information sequenziert und analysiert. „Eine Sisyphos-Arbeit“, beschreibt Dr. Jens Bast, Emmy-Noether-Nachwuchsgruppenleiter am Institut für Zoologie der Universität zu Köln das Verfahren. „Die Milben sind nur ein Fünftel Millimeter groß und schwer zu identifizieren.“ Zusätzlich erforderte die Analyse der Genomdaten eigens zu diesem Zweck geschriebene Computerprogramme. Das Team um Brandt, Schwander und Bast erweiterten der erfahrene Bodenkundler und Taxonom Dr. Christian Bluhm von der Forstwissenschaftlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg, Patrick Tran Van, ein auf das Fachgebiet der evolutionären Genomik spezialisierter Bioinformatiker, sowie der Göttinger Bodenökologe Prof. Stefan Scheu.

Kummer und Schweiß wurden belohnt: Der Meselson-Effekt konnte tatsächlich belegt werden. „Dies zeigt eindeutig, dass O. nova ausschließlich asexuell reproduziert. Hornmilben könnten noch für die ein oder andere Überraschung sorgen, wenn es darum geht zu verstehen, wie Evolution ohne Sex funktioniert“, hält Bast fest. Die Ergebnisse zeigen: Das Überdauern einer Art ohne sexuelle Reproduktion ist zwar ziemlich selten, aber keine Unmöglichkeit. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Studie sind nun dabei herauszufinden, was diese Hornmilben so speziell macht.


Diese Newsmeldung wurde mit Material der Universität zu Köln via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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