Organizismus


Als Organizismus oder biologischen Holismus bezeichnet man die These, dass sich viele biologische Fragen nur beantworten lassen, wenn man den gesamten Organismus untersucht. Der Organizismus steht somit einem biologischen Reduktionismus gegenüber, der biologische Makrophänomene generell auf biologische Mikrophänomene zurückführen will. Ernst Mayr beschreibt den Organizismus wie folgt: „Zusammenfassend kann man den Organizismus am besten als eine doppelte Überzeugung beschreiben: Zum einen ist es wichtig, den Organismus als Ganzes zu betrachten. Zum anderen ist Ganzheit nicht mysteriös der Analyse verschlossen, sollte jedoch auf der richtigen Analyseebene studiert werden.“[1] Diese richtige Analyseebene ist die der kausalen Abhängigkeiten zwischen den Teilen oder 'Organen' des betrachteten Gegenstandes, die im Organizimsus als wechselseitig begriffen werden.[2]

Geschichte

Der Begriff wurde von William Emerson Ritter 1919 geprägt.

Der Organizismus entwickelte sich aus der Erkenntnis, dass weder die mechanistisch-reduktionistische Betrachtungsweise der Physik noch die nicht überprüfbaren Hypothesen des Vitalismus den besonderen Eigenschaften der Lebewesen angemessen sind.

Als Grundprinzip wird die besondere Organisation der Lebewesen (und damit der Organismen) betrachtet: Sie stellen ein komplexes, hierarchisch gegliedertes System aus Elementen dar, die untereinander in vielfältigen Wechselbeziehungen stehen und dadurch Eigenschaften hervorbringen, die durch eine isolierte Betrachtung der einzelnen Elemente nicht mehr erklärbar sind. Diese neuen Eigenschaften werden als Emergenzen bezeichnet. Sie ergeben sich aus der Integration von Elementen zu einer neuen Einheit. Diese steht wieder mit anderen Einheiten in vielfältigen Wechselbeziehungen, so dass auch hier eine weitere Integration auf einer weiteren Ebene entsteht, und so fort.

Die besonderen Eigenschaften der Lebewesen beruhen demnach nicht auf ihrer stofflichen Zusammensetzung, sondern auf der ihnen eigentümlichen Organisation. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile hat sich hierfür als griffige Formel eingebürgert.

So lassen sich zwar auf der Integrationsebene der Moleküle alle Vorgänge durch physikalisch-chemische Gesetze erklären, diese verlieren aber für die höheren Ebenen immer mehr an Bedeutung und werden durch andere, biologische Prinzipien ersetzt.

In der modernen Biologie spielt das genetische Programm zur Erklärung der Unterschiede zu nicht lebenden Systemen eine herausragende Rolle: Nur Lebewesen werden in weiten Teilen von einem genetischen Programm gesteuert, das im Laufe der Evolution erworben und weiter entwickelt wurde.

In der Ökologie waren organizistische Theorien vor allem bis Mitte des 20. Jahrhunderts dominant. Als frühe Vertreter des Organizismus in der deutschen Ökologie lassen sich Karl Friederichs[3][4] und August Thienemann[5] nennen. Synökologische Einheiten gelten hier als Ganzheiten. Ihren Teilen, d. h. Arten und Artengruppen, wird eine Funktion für dieses Ganze zugeschrieben, so dass die Teile Organe, das heißt ’Werkzeuge’ des Ganzen sind. Dabei wird davon ausgegangen, dass Organismen durch lebensnotwendige wechselseitige Beziehungen miteinander verbunden sind, und zwar so, dass die Organismen alle zur Bildung von ‘Organen’ der Gemeinschaft beitragen. Jedes Organ erfüllt Funktionen für die Gemeinschaft, ohne die diese nicht existieren könnte. Daher ist jedes Individuum abhängig von der Gemeinschaft als einer Ganzheit. Nur dadurch, dass das Individuum wie alle anderen seine speziellen Funktionen in der Gemeinschaft erfüllt, ist seine Selbsterhaltung möglich. Die synökologischen Einheiten sind natürliche Einheiten. Das heißt: Sie existieren unabhängig vom Wissenschaftler; dieser kann sie nicht nach Belieben abgrenzen, sondern muss sie in der Natur auffinden. Die Sukzession, d. h. das Einander-Ablösen verschiedener Artenkombinationen in der Zeit, führt von wenig integrierten Pioniergesellschaften zu immer höher integrierten Einheiten. Im Sukzessionsverlauf beeinflussen Umwelt und Artengemeinschaft einander wechselseitig, und zwar so, dass letztlich ein Klimaxzustand erreicht wird. In diesem bildet eine Artengemeinschaft mit dem von ihr selbst gestalteten Habitat eine stabile organische Einheit. Den Gegenpol zu diesen organizistisch-holistischen Auffassungen in der Ökologie bilden einerseits individualistisch-reduktionistischeTheorien: In diesen wird vom Individuum ausgegangen: Auf einer Fläche koexistieren alle Arten, die dorthin gelangt sind und geeignete Umweltbedingungen vorgefunden haben. Sie sind in ihrer Existenz nicht daran gebunden, für andere oder eine übergeordnete Gesellschaft Funktionen zu erfüllen. Nicht organizistische, aber in bestimmten Aspekten holistische Theorien sind Ökosystemtheorien.[6][7]

Literatur

  • William Emerson Ritter: The Unity of the Organism. Or, the Organismal Conception of Life. 2 Bände. Badger, Boston 1919.
  • Friedrich Alverdes: Die Ganzheitsbetrachtung in der Biologie. Elsner, Berlin 1932 (Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Beförderung der Gesamten Naturwissenschaften zu Marburg 67, 3, ISSN 0370-8624).
  • Friedrich Alverdes: Organizismus und Holismus. Neuere theoretische Strömungen in der Biologie. Der Biologe 1936/5 (4): S. 121–128.
  • Armin Müller: Ganzheitsbiologie und Ethik. Borgmeyer, Breslau 1933 (Bücher der neuen Biologie und Anthropologie 10, ZDB-ID 988446-4).
  • Francesco Nardi: Organismus und Gestalt. Von den formenden Kräften des Lebendigen. Oldenbourg, München u. a. 1942 (Einheit des Wissens).
  • Ludwig Trepl: Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zehn Vorlesungen. Athenäum, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-610-04070-X, S. 139–158 (Athenäum-Taschenbücher 4070).
  • Ludwig Trepl: Holism and reductionism in ecology: technical, political, and ideological implications. In: Capitalism, nature, socialism. CNS. 1994/5 (4), ISSN 1045-5752, S. 13–31.
  • Karen Gloy: Das Verständnis der Natur. Band 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens. Beck, München 1996, ISBN 3-406-38551-6 (Lizenzausgabe. Komet, Köln 2005, ISBN 3-89836-511-5).
  • Ernst Mayr: The organicists. What is the meaning of life. In: Ernst Mayr: This is biology. The science of the living world. Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge MA u. a. 1997, ISBN 0-674-88468-X (deutsch: Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens. Spektrum – Akademischer Verlag, Heidelberg u. a. 2000, ISBN 3-8274-1015-0).

Weblinks

  • C.N.G. Orsini: Organicism in Dictionary of the History of Ideas

Einzelnachweise

  1. Ernst Mayr: This Is Biology: The Science of the Living World , Belknap Press 1998, ISBN 0674884698
  2. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft ((1790). Werkausgabe, Bd. X. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1996; Peter McLaughlin: What functions explain. Functional explanation and self-reproducing systems. Cambridge University Press, Cambridge 2001; Kristian Köchy: Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie. Schöningh, Paderborn 2003.
  3. Karl Friederichs: Grundsätzliches über die Lebenseinheiten höherer Ordnung und den ökologischen Einheitsfaktor. - Die Naturwissenschaften, 15 (7): 153-157, 182-186. 1927
  4. Karl Friederichs: Vom Wesen der Ökologie. - Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, 27 (3): 277-285. 1934
  5. August Thienemann: Vom Wesen der Ökologie. - Biol. gen., 15: 312-331.1941
  6. Annette Voigt: Theorien synökologischer Einheiten – Ein Beitrag zur Erklärung der Uneindeutigkeit des Ökosystembegriffs, Dissertation, http://mediatum2.ub.tum.de/node?id=632738
  7. Ludwig Trepl: Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M.: 280 S.1987: S. 139-158

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