Hermann Stieve


Hermann Philipp Rudolf Stieve (* 22. Mai 1886 in München; † 6. September 1952 in Berlin) war ein deutscher Professor für Anatomie und Histologie.

Leben

Nach dem Abitur 1905 am Wilhelmsgymnasium München[1] absolvierte der der evangelischen Konfession angehörende Stieve an den Universitäten München und Innsbruck ein Studium der Medizin. 1906 wurde er Mitglied des Corps Franconia München.[2] Stieve leistete einen Militärdienst als einjährig-freiwilliger Arzt. 1912 promovierte Stieve zum Dr. med. Er leistete seine Praktika am Pathologischen Instituts des Krankenhauses rechts der Isar und an der zweiten Medizinischen Universitätsklinik München. Ab 1913 arbeitete er als Assistent von Rückert am Anatomischen Institut München. Von 1914 bis 1917 war er als Frontarzt und dann an der Militärärztlichen Akademie München tätig und erhielt diverse militärische Auszeichnungen. Stieve habilitierte sich mit der Schrift Entwicklung des Eierstocks bei der Dohle in München für Anatomie, bevor er 1918 zweiter Prosektor an der Universität Leipzig bei Held wurde. Als Privatdozent lehrte er Anatomie und Anthropologie. In den Jahren 1918/19 war Stieve Mitglied der DNVP. Im Zeitraum 1919/20 gehörte er dem Freikorps Leipzig an und unterstützte den Kapp-Putsch. Von 1920 an war er Mitglied der Organisation Escherich, bis diese aufgelöst wurde. 1920 promovierte er in München auch zum Dr. phil. Im Jahr 1921 erfolgte seine Berufung als ordentlicher Professor für Anatomie an die Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg. Im gleichen Jahr trat Stieve dem Stahlhelm bei. Er übernahm zugleich die Funktion als Direktor des Anatomischen Instituts der Universität. Von 1923 bis 1928 war er auch Leiter des deutschen Hochschulausschusses für Leibesübungen. Am 3. Mai 1933 wurde er vom Generalkonzil der Universität zum Rektor gewählt. Auf seine Veranlassung wurde die Universität Halle/Saale in Martin-Luther-Universität umbenannt. Von Amt des Rektors trat er jedoch wegen anhaltender Auseinandersetzungen mit der NS-Studentenschaft bereits im November 1933 wieder zurück. Seine Stahlhelm-Mitgliedschaft wurde 1934 in die SA-Reserve II überführt. 1935 übernahm er eine Professur an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin, wo er die Leitung des ersten Anatomischen Instituts und des Anatomisch-biologischen Instituts innehatte. Diese Funktionen übte er bis zu seinem überraschenden Tod nach einem Schlaganfall 1952 aus. Erst 1954 wurde mit Anton Johannes Waldeyer sein Nachfolger berufen.

Familie

Der Vater von Hermann Stieve war Geschichtsprofessor an der Universität München. Der Mediziner Robert Stieve war sein Sohn.[3] Hermann Stieve und der Historiker sowie Diplomat Friedrich Stieve waren Brüder.[4]

Wirken

Eine Vielzahl seiner Veröffentlichungen betrafen Fragen der Struktur der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane. Sein Hauptforschungsgebiet war das biologische und anatomische Verhalten des Geschlechtszyklus der Frau. Forschungsgegenstand war insbesondere der Eierstock. Er gilt als Entdecker der grundlegenden morphologischen und funktionellen Zusammenhänge der Funktion der Keimdrüse des Menschen. Sowohl grundlegende Fragen der Funktion der Hoden als auch der Eierstöcke und deren Abhängigkeit von äußeren Einflüssen wurden von ihm geklärt. Mit seinen Arbeiten zum durch Einflüsse der Umwelt bedingten Ausbleiben der Regelblutung schuf er Grundsteine für ein psychosomatisches Krankheitsbild.

Darüber hinaus war er Mitherausgeber der Fachzeitschrift Medizinische Klinik[5] und Herausgeber der Zeitschrift für mikroskopisch-anatomische Forschung.

Stieve gehörte den Akademien der Wissenschaften von Stockholm, Uppsala und München sowie der Leopoldina in Halle (Saale) an. Außerdem war er Mitglied des Nobelkomitees. Seit dem 19. Juli 1949 war er auch Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.

Ab 1950 gehörte Stieve dem Beirat der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung an.[5]

Tätigkeit in der Zeit des Nationalsozialismus

Hermann Stieve

Während seine wissenschaftlichen Leistungen allseitige Würdigung erfuhren, wird an seinen Verhaltensweisen in der Zeit des Nationalsozialismus zum Teil heftige Kritik geübt.[6][7]

Problematisch an der Forschungsarbeit Stieves war das Fehlen geeigneter Forschungspräparate. Noch 1931 hatte Stieve sich gegenüber einem Kurator über die Schwierigkeiten seiner Forschungsarbeit schriftlich geäußert: „Es ist ungemein schwer, Eierstöcke von wirklich gesunden Mädchen aufzutreiben.“[7] In seiner Zeit in Halle wurden Untersuchungen an verschiedenen Tieren, vor allem Haushühnern, vorgenommen. Ein zentraler Aspekt war die Frage, ob der Eisprung anders als von Hermann Knaus und Kyūsaku Ogino vorausgesetzt, auch unerwartet, zum Beispiel in Schrecksituationen eintreten kann und es somit die von Knaus und Ogino angegebenen berechenbaren empfängnisfreien Tage nicht gäbe und äußere Einflüsse eine Rolle spielen.

In ersten Versuchsreihen war zu Hühnern ein Käfig mit einem Fuchs gestellt worden, um die Hühner einem plötzlichen Stressfaktor auszusetzen. In der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nutzte Stieve das Unrechtssystem für seine Forschung in ethisch umstrittener Weise. 1938 äußerte Stieve in Bezug auf die durch den Volksgerichtshof vermehrt ausgesprochenen Todesstrafen: „Durch die Hinrichtungen erhält das Anatomische und anatomisch-biologische Institut einen Werkstoff, wie ihn kein anderes Institut der Welt besitzt. Ich bin verpflichtet, diesen Werkstoff entsprechend zu bearbeiten, zu fixieren und aufzubewahren.“[7] Zwischen 1939 und 1945 erhielt Stieve, der nicht Mitglied der NSDAP war, 269 Körper toter Frauen aus den Haftanstalten und Lagern Ravensbrück und Plötzensee.

Stieve wird vorgeworfen, in mehreren Fällen auf Hinrichtungstermine dergestalt Einfluss genommen zu haben, dass die Entnahme der Organe für die wissenschaftlichen Untersuchungen möglich wurden. In einer Notiz des Generalstaatsanwalts wird über eine Besprechung, zu der auch Stieve hinzugezogen wurde, mitgeteilt: „Als Ergebnis der Besprechung trage ich hiermit folgendes vor: Erwünscht ist (wegen der Bombardierungen) die Vollstreckung von Todesurteilen in Plötzensee auf den Abend zu verlegen und zwar auf 20 Uhr. Professor Stieve war hiermit einverstanden und erklärte, dass die Leichen dann noch am selben Abend zur Anatomie abgeholt werden könnten. Ein späterer Zeitpunkt sei für das Anatomische Institut aber nicht tragbar, weil sonst die Bearbeitung der Leichen zu Forschungszwecken sich zu spät in die Nacht hinein ausdehnen würde, so dass die beteiligten Ärzte nicht mehr mit den Verkehrsmitteln nach Hause kommen könnten.“[7]

Auch sollen junge Frauen durch die jeweiligen Gefängnisärzte angehalten worden sein, einen Monatskalender zu führen. Es soll ihnen dann entsprechende Tage vor ihrem Eisprung der Hinrichtungstermin mitgeteilt worden sein, um so verwertbare Forschungsergebnisse zu erhalten.[8] Diese Behauptungen von Bartsch sind allerdings nirgends belegt. Es findet sich auch sonst kein Hinweis auf eine entsprechende Einflussnahme irgenwelcher Art.

Gestützt auf solche Befunde kam Stieve zum Schluss, dass Schockerlebnisse binnen weniger Stunden einen vom Zyklus abweichenden Eisprung auslösen können. Stieve verheimlichte die Quelle seines Untersuchungsmaterials nicht. So schilderte er in der Zeitschrift „Das deutsche Gesundheitswesen“ am 15. September 1946 den Fall einer 22-jährigen Frau, deren Monatsblutung „infolge starker nervöser Erregung“ elf Monate lang ausgeblieben war. Aber plötzlich trat, „im Anschluss an eine Nachricht, die die Frau sehr stark erregt hatte (Todesurteil), eine Schreckblutung ein. Am folgenden Tag starb die Frau plötzlich durch äußere Gewalteinwirkung…“[7] Bei der hingerichteten Frau handelte es sich um die am 5. August 1943 um 19.42 Uhr enthauptete Widerstandskämpferin Cato Bontjes van Beek. Von seiner Bereitschaft, die Körper Hingerichteter für seine Forschungszwecke zu nutzen, machte Stieve jedoch zumindest eine Ausnahme. Er verweigerte die Annahme der Körper der Attentäter vom 20. Juli 1944.

Bei dem Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt war Stieve ab 1944 noch Angehöriger des wissenschaftlichen Beirates.[5]

Stieve selbst äußerte sich zu der Frage der Ethik seines Handelns: „Ich selbst habe alle Leichen, die der Anatomie in der Zeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft überwiesen wurden, seziert und habe mich dabei bemüht, die erhobenen Befunde für meine wissenschaftlichen Arbeiten und dadurch zum Wohle der Menschheit zu verwerten.“[7] Von offizieller Seite gab es an seinem Handeln auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur zunächst keine Kritik. Das Neue Deutschland, Zentralorgan der DDR-Regierungspartei SED schrieb in seinem Nachruf: „Groß waren seine Taten. In seinem Werk wird er weiterleben“.[7]

Ehrungen

Stieve hatte während seiner Militärzeit diverse Auszeichnungen erhalten. Hierzu gehörte das Eiserne Kreuz II. Klasse, der Königlich bayerische Militärverdienstorden IV. Klasse mit Schwertern, sowie das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens mit Kriegsdekoration.

Der in Berlin-Lichterfelde im Westteil Berlins lebende Stieve erhielt auch den Nationalpreis der DDR.

Nach seinem Tod wurde Stieve zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ernannt.[5]

Literatur

  • Wilhelm Bartsch: Ein Meister aus Deutschland – der Anatom und Gynäkologe Hermann Stieve In: Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 18 (4/2007), S. 52−55, online (PDF-Dokument; 5,08 MB)
  • Theodor Brugsch, Hermann Stieve zum Gedächtnis in Wissenschaftliche Annalen 1952, Seite 528
  • Udo Schagen: Die Forschung an menschlichen Organen nach "plötzlichem Tod" und der Anatom Hermann Stieve (1886-1952) in Die Berliner Universität in der ns-zeit, Franz Steiner Verlag, 2005 ISBN 3-515-08658-7, 9783515086585, Seite 35 ff.
  • Ernst Klee: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer. 3. Auflage. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1997, ISBN 3-596-14906-1.

Weblinks

Commons: Hermann Stieve – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Jahresbericht über das K. Wilhelms-Gymnasium zu München. ZDB-ID 12448436, 1904/05
  2. Kösener Corpslisten 1960, 106, 756
  3. Ernst Klee: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer., Frankfurt am Main 1997, S. 97
  4. Grosse bayerische biographische Enzyklopädie, Bd. P-Z, München 2005, S. 1901
  5. 5,0 5,1 5,2 5,3 Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt am Main 2007, S. 603.
  6. Udo Schagen: Die Forschung an menschlichen Organen nach "plötzlichem Tod" und der Anatom Hermann Stieve (1886-1952) [1]
  7. 7,0 7,1 7,2 7,3 7,4 7,5 7,6 Wilhelm Bartsch: Ein Meister aus Deutschland - der Anatom und Gynäkologe Hermann Stieve. Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 4 (2007), 52-55, online
  8. Zentralblatt für Gynäkologie 66/2 von 1942 S. 1456 f. „Die Wirkung von Gefangenschaft und Angst auf den Bau und die Funktion der weiblichen Geschlechtsorgane“ zitiert nach Wilhelm Bartsch.

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