Evolution der Schnecken in neuem Licht: Eine Frage der Tentakel?



Bio-News vom 29.10.2021

Vier statt nur zwei Tentakel am Kopf: Dieses Merkmal könnte eine der Grundlagen für die große Vielfalt an Schnecken sein. Forscher haben nun durch genetische Analysen herausgefunden, dass Schnecken vor 400 bis 300 Millionen Jahren begannen vier Tentakel anstatt zwei zu entwickeln - erdgeschichtlich kurz vor der evolutionären Explosion, nach der wiederum fast 40 Prozent aller heute lebenden Weichtierarten entstanden sind.

In ihren Tentakeln sind alle Sinne versammelt: Schnecken riechen, schmecken, tasten oder sehen mit ihren Sinnesantennen. Rund die Hälfte aller Schnecken verfügen über zwei Tentakel. Die andere Hälfte, die sogenannten Euthyneura, besitzen vier. Bei ihnen sind beispielsweise Geruchs- und Geschmackssinn voneinander getrennt.

Artenforscher aus München und Tokio entdeckten nun sogenannte „Missing Links“ – fehlende Bindeglieder der Evolution – zwischen den beiden Schneckengruppen: Die Fühler am Kopf von winzigen Meeresschnecken-Arten der Gattungen Parvaplustrum und Tjaernoeia sind an deren Ende gabelartig gespalten. Die Nervenstränge in den Fühlern dieser Schnecken verlaufen an der Basis noch fast zusammen und spalten sich zum Ende hin auf. „Diese Form der Sinnestentakel war bisher unbekannt – Schnecken hatten sonst entweder ein paar Fühler oder zwei, aber kein Mittelding,“ erläutert Bastian Brenzinger, Schneckenforscher an der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) und Erstautor der Studie.


Gelbe Viertentakel-Meeresschnecke Tylodina aus dem Mittelmeer.

Publikation:


Brenzinger, B., Schrödl, M. & Kano, Y.
Origin and significance of two pairs of head tentacles in the radiation of euthyneuran sea slugs and land snails
Sci Rep 11, 21016 (2021)

DOI: 10.1038/s41598-021-99172-5



Wissenschaftler der Zoologischen Staatssammlung München und der University of Tokyo haben viele Daten zu teils winzigen Meeres- und Landschnecken analysiert, um deren Entwicklungsgeschichte aufzudecken. Manche von ihnen sind nur wenige hundert Mikrometer lang, wie beispielsweise die Meeresschnecke Tjaernoeia exquisita mit rund einem halben Millimeter Körperlänge - eine der kleinsten lebenden Schneckenarten. Mithilfe von dreidimensionalen Rekonstruktionen machten die Schneckenforscher die Kopfanatomie sowie das zentrale Nervensystem der Tiere sichtbar.


Die heimische Garten-Schnirkelschnecke Cepaea hortensis mit zwei paar Fühlern.

Eine ausführliche Diagnose von genetischen Daten der Schnecken ermöglichte den Experten neue Einblicke in die Vergangenheit und die Verwandtschaftsverhältnisse. Die genetischen Analysen haben im Vergleich mit den Körperbauplänen gezeigt, dass die neu entdeckten „Gabelfühlerschnecken“ ein sehr ursprünglicher Teil der Gruppe der „Vierfühlerschnecken“ sind. Denen gegenüber stehen alle übrigen „Zweifühlerschnecken“, die entwicklungsgeschichtlich älter sind. Die Forscher vermuten, dass der Erwerb der verbesserten Kopfsensoren im Meer des Paläozoikums stattgefunden hat. Gehalten hat sich das „Vierfühler“-Merkmal bis heute erfolgreich: augenscheinlich bei so gut wie allen in Deutschland vorkommenden Landschnecken, aber auch bei einem großen Teil der Wasserschnecken, insbesondere den Meeresnacktschnecken. Über dreißigtausend Schneckenarten haben diese Kopfform.

„Eventuell sind die Veränderungen der Sensoren am Kopf ein bisher übersehenes Schlüsselereignis in der Evolutionsgeschichte der Schnecken. Sie könnte sogar mit der explosionsartigen Ausbreitung der Schnecken vor 320-220 Mio. Jahren in Zusammenhang stehen. Danach gab es eine enorme Steigerung in Vielfalt und Artenzahl“, deutet Bastian Brenzinger die Ergebnisse der Studie.


Diese Newsmeldung wurde mit Material Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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