Synästhesie


Das Alphabet in der individuellen Wahrnehmung einer Synästhetin: Zu jedem Buchstaben gehört neben seiner Farbe auch noch eine ganz bestimmte Position im Raum.

Die Synästhesie (von altgriech. συναισϑάνομαι synaisthanomai ‚mitempfinden‘ oder ‚zugleich wahrnehmen‘) bezeichnet hauptsächlich die Kopplung zweier oder mehrerer physisch getrennter Bereiche der Wahrnehmung, etwa Farbe und Temperatur („warmes Grün“), im engeren Sinne die Wahrnehmung von Sinnesreizen durch Miterregung der Verarbeitungszentren im Gehirn eines Sinnesorgans, wenn ein anderes gereizt wird. Menschen, die Wahrnehmungen derart verknüpft erfahren, werden als Synästhetiker bezeichnet. Synästhesien können auch krankheitsbedingt (z. B. Schizophrenie) oder drogeninduziert (beispielsweise durch Halluzinogene) auftreten, sind für sich alleine aber kein Symptom einer Störung.

Synästhesie tritt familiär gehäuft auf. In einer Studie[1] gaben 43 % der befragten Synästhetiker an, dass mindestens ein weiterer Synästhetiker unter den Verwandten ersten Grades sei.

In der Rhetorik steht der Begriff für das Vermischen von Sinnesebenen.

In der Wissenschaft

Physiologische Normvariante

Ein Beispiel für Gefühlssynästhesie: Unbehagen zeigt sich als weißer Tropfen.

Synästhetiker haben also häufig zu einem Sinnesreiz zwei oder mehrere Wahrnehmungen. Sie können beispielsweise Geräusche nicht nur hören, sondern auch Formen und Farben dazu sehen. Das Geräusch bekommt zusätzlich zu den üblichen Eigenschaften diese weiteren Eigenschaften. Das Bild, das dabei entsteht, überlagert sich jedoch nur bei den wenigsten Synästhetikern mit dem Wahrgenommenen, sondern wird vor einem „inneren Auge“ sichtbar.

Synästhesien müssen nicht notwendigerweise mit den fünf Hauptsinnen zu tun haben. Bei Gefühlssynästhetikern erzeugen beispielsweise Sinnesreize Gefühle. Auch abstrakte Begriffe wie eine Jahreszahl oder der Charakter einer Person können bei einem Synästhetiker als Form, Farbe oder sonstige Sinnesqualität wahrgenommen werden.

Meist wird in sensorische und kognitive Synästhesie unterschieden. Bei der sensorischen Synästhesie kommt es durch Stimulation eines Sinnes zu unwillkürlichen und gleichzeitigen synästhetischen Empfindungen in anderen Sinnessystemen. Beispielsweise kann der Klang eines Musikinstrumentes zu Farbwahrnehmungen führen. Bei der kognitiven Synästhesie erhalten Gruppen von Dingen (zum Beispiel Zahlen oder Buchstaben) sensorische Zuordnungen, wie Geruch und Geschmack. So werden zum Beispiel Buchstaben als Farben wahrgenommen: der Buchstabe A = pink, der Buchstabe B = blau oder der Buchstabe C = grün.

Jüngst wurde vorgeschlagen, die Unterscheidung in sensorische und kognitive Synästhesie zugunsten der Vorstellung der Ideasthesie aufzugeben. Dieser Begriff bezeichnet die Auffassung, dass synästhetisches Erleben immer einen kognitiven, also semantischen und einen sensorischen Aspekt besitzt. Der Auslöser oder Trigger der synästhetischen Empfindung ist demnach ein Konzept (beispielsweise die Bedeutung der Zahl „5“ ) und die synästhetische Wahrnehmung selbst ein sensorisches Attribut (im Ergebnis beispielsweise „blau“).

Kategorisierung der Synästhesie

Farben-Synästhesie bei Buchstaben und Ziffern
Farben-Synästhesie bei Ziffern - jeder sieht andere Farben.
Zahlen - Farben und Position

Durch die Möglichkeiten der verschiedenen Kombinationen von Sinneseindrücken als Triggers (inducers) und darauffolgenden synästhetischen Wahrnehmungen als sogenannten „Concurrents“ gibt es verschiedene Formen der Synästhesie (Grossenbacher 1997[1]). Am häufigsten sind Synästhesien, welche durch sprachliche Codes (Buchstaben, Nummer und Wörtern) ausgelöst werden. Dabei sind die meisten Concurrents visueller Natur (Muster, Farben)[1]. Je nachdem, ob man auf den auslösenden Reiz (Inducer) oder die darauffolgende ausgelöste synästhetische Reizerfahrung (Concurrent) achtet, können verschiedene Kategorisierungen von Synästhesien vorgenommen werden (Flournoy 1893[1]). Ramachandran und Hubbard haben 2001 zusätzlich vorgeschlagen[1], dass die verschiedenen Synästhesieformen in „tiefere“ und „höhere“ Formen unterteilt werden. Je nachdem, ob die Inducer auf einem tieferen Level, bei Tönen oder Lichtern, oder auf einem höheren Niveau der Verarbeitung, wie bei Buchstaben, Zahlen und Sequenzen, synästhetisch wirken. In Bezug auf die Concurrents kann konstatiert werden, dass die visuellen Eindrücke von einer eindrücklichen photoähnlichen Projektion bis hin zu einer überwältigenden geistigen Vorstellung reichen. Dixon hat 2004[1] diese zwei Extreme als Projektoren und Assoziierer beschrieben (projector, associator). Aufgrund der Ausprägung unterscheidet man zwischen starker und schwacher Synästhesie.

Starke Synästhesie

Die starke Synästhesie führt zu äußerst lebendigen, sekundären Empfindungen als Reaktion auf einen primären Wahrnehmungsreiz. Es kommt außerdem zu plötzlichem und gleichzeitigem Auftreten verschiedener Merkmale. Bei der gleichen visuellen Wahrnehmung kommt es immer zur gleichen synästhetischen Empfindung. Diese Art tritt besonders im jungen Alter und gehäufter bei Frauen auf. Die Ursache dafür ist möglicherweise genetisch.

Schwache Synästhesie

Die schwache Synästhesie besitzt keine große Lebendigkeit. Der Proband erkennt, dass Aspekte bestimmter Sinnesmodalitäten ähnlich sind, registriert jedoch keine begleitende Sinnesempfindung, wodurch er nur sekundäre Wahrnehmungseindrücke erlebt. Zum Beispiel registriert er orange und braun als „warme“ – grün und blau hingegen eher als „kalte“ Farbe.

In der Erforschung der Merkmale von Synästhesie legte der US-amerikanische Neurologe Richard Cytowic sechs Merkmale fest, die hier in einer revidierten Fassung wiedergegeben werden.

  1. Synästhesien finden unwillkürlich statt, brauchen aber einen Auslöser.
  2. Synästhesien sind eindeutig unterscheidbar: Verschiedene Dinge rufen verschiedene synästhetische Wahrnehmungen hervor (zum Beispiel sind A und R beide rot, aber mit verschiedenen Farbtönen).
  3. Synästhesien basieren auf einfachen und abstrakten Formen: Auslöser einer synästhetischen Empfindung sind oftmals abstrakte Formen (zum Beispiel geometrische Figuren).
  4. Synästhesien sind erinnerbar: Synästhetiker können sich leicht an synästhetische Wahrnehmungen erinnern.
  5. Synästhesien verlaufen in eine Richtung: Synästhesie ist mit einer Einbahnstraße vergleichbar: Ein Synästhetiker kann zwar beim Musikhören Farben sehen, umgekehrt funktioniert das nicht. Dieser Punkt ist strittig. Manche Synästhetiker, die Zahlen, Formen oder Buchstaben farbig sehen, können eine Farbe oder eine Reihe von Farben in Zahlen, Formen oder Buchstaben unbewusst umwandeln.
  6. Synästhesien sind noetisch: Synästhetiker bezeichnen das Gefühl zu ihrer Begabung als „natürlich“ (4 = natürlich grün); die Empfindung ist schon immer da gewesen.

Häufigkeit

Frühere Schätzungen gingen davon aus, dass Synästhesie relativ selten vorkommt. Eine neuere Studie zeigt aber, dass ca. 4 % der Menschen eine Synästhesie haben könnten [2]. Untersuchungen an einer Kunstschule zeigten, dass 23 % der Schüler Synästhetiker waren [3][4]. Auch über die Verteilung der Häufigkeit zwischen Frauen und Männern liegen voneinander abweichende Angaben vor, diese reichen von 1:1 bis 7:1.

Viele Synästhetiker sind sich der Besonderheit ihrer Wahrnehmung selbst nicht bewusst und erkennen ihre Synästhesie erst, wenn man sie darauf aufmerksam macht. Daher gibt es eine hohe Dunkelziffer. Synästhesie ist international derzeit ein populärer Forschungsgegenstand, da man sich Erkenntnisse über die Funktionsweise der menschlichen Wahrnehmung erhofft. Auch die Medienaufmerksamkeit hat in den letzten Jahren stark zugenommen.

Für manche Betroffene gehört zur Synästhesie ein soziales Zusammengehörigkeitsgefühl. Früher wagten Synästhetiker selten, anderen von ihrer besonderen Wahrnehmung mitzuteilen, da sie als Wahrnehmungsstörungen angesehen wurden. Dies hat sich in jüngster Zeit geändert. Heute wird Synästhesie nicht mehr als Störung angesehen, zumal sie von den meisten Synästhetikern als sehr angenehm erlebt wird. Zurzeit erscheinen in den Medien relativ viele Beiträge über Synästhesie, so dass die Öffentlichkeit inzwischen deutlich besser informiert ist als noch vor wenigen Jahren.

Ursachen der Synästhesie

Auf Grund des gehäuften Auftretens starker Synästhesie innerhalb von Familien gibt es Vererbungstheorien, die von einer autosomal-dominanten oder x-chromosomal-dominanten Vererbung ausgehen. Daneben wird auch von Gehirnschädigungen oder Anfällen ausgegangen, die als Ursache für synästhetische Empfindungen – meist als sensorische Synästhesie – stehen sollen. Es ist hier wichtig, anzumerken, dass Synästhesie als zusätzlich anzusehen ist. Synästhetische Wahrnehmungen werden also hinzugefügt und nicht mit der auslösenden Wahrnehmung ausgetauscht. Bisher konnte für keines der Modelle ein wissenschaftlicher Nachweis erbracht werden.

Time-Space-Synästhesie

Time-Space-Synästhesie bei Wochentagen. Beschreibung der Künstlerin:{{Modul:Vorlage:lang}} Modul:Multilingual:149: attempt to index field 'data' (a nil value)” (deutsch: „Dies ist eine sehr grobe Skizze davon, wie ich die Tage der Woche mit meiner Raum-Sequenz-Synästhesie sehe. Es ist ein Kreis, in dem Samstag und Sonntag (saturday and sunday) weiter von mir weg sind, und der Mittwoch ist mir am nächsten. Es ist wirklich schwer, das richtig darzustellen. […] Die Tage sind auch so gefärbt, wie sie für mich gefärbt sind (durch Graphem-Farb-Synästhesie). Das ist nicht unbedingt, wie die eigentlichen Worte für mich aussehen, nur die TAGE.“)

Bei visuellen Synästhesieformen ist es möglich, dass man sich Formen und Figuren vor dem geistigen Auge oder in einem peripersonalen Raum ohne primären Reizeindruck eindrücklich vorstellen und gar sehen kann. Unter diesen Synästhesieformen ist die Zeit-Raum-Synästhesie bemerkenswert, da sie diesen Synästheten erlaubt, Zeitintervalle visuell und sequentiell zu kartographieren. Eine Woche kann dabei auf einer Ellipse arrangiert werden, welche wiederum in einer Darstellung für ein Jahr verwoben sein kann. Diese Art der Synästhesie lässt sich als eine Synästhesie höherer Ordnung klassifizieren. Bemerkenswert ist, dass es diesen Synästheten laut Simner[5] möglich ist, innerhalb dieser mentalen Visualisierungen die Perspektive, den Ausschnitt sowie die Größe der Abbildung zu variieren. Die Figuren werden größtenteils in einem dreidimensionalen Raum wahrgenommen, was diese Manipulationen ermöglicht.

Der Großteil der Synästhetiker des visuell spatialen Typus hat ein bildliches Vorstellungsvermögen für Zeiteinheiten, Zahlen und Buchstaben. Seltener sind Synästhesieformen dieser Art für andere sequenzierte Einheiten wie Schuhgrößen, Temperaturen, geschichtliche Epochen, TV-Kanäle[5]. Obwohl diese Vorstellungen höchst eigen sind, bleiben sie innerhalb derselben Person gleich. Die Gehirnbereiche, welche vor allem beim Verarbeiten wohlgeordneter Folgen aktiviert werden, und die Gehirnbereiche, welche bei der Vorstellung von Dingen aktiviert werden, liegen beide nahe beieinander im Temporallappen (Eagleman 2009; Peissig[6]). Dadurch können sich beide Gehirnbereiche gegenseitig aktivieren und die synästhetischen Wahrnehmungen auslösen.

Time-Space-Synästhesie, mentale Vorteile und ihre Verwandtschaft zum Savant-Syndrom

Simner et al. haben in ihrer Untersuchung festgestellt[5], dass Synästhetiker mit dieser Begabung bei Erinnerungstests und Tests zur visuellen Erinnerung und Manipulation von Figuren, Bildern und Silhouetten erheblich besser abschnitten als normale Probanden.

Menschen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten sind sehr selten und in vielen Fällen gehen diese Kräfte Hand in Hand mit ähnlich großen Defiziten in anderen Bereichen. Das wohl prominenteste Beispiel für eine vortreffliche Begabung, welche durch schwere Defizite begleitet wird, war der Inselbegabte (Savant-Syndrom) Kim Peek, dessen Person als Vorlage für den Film „Rain Man“ diente, welcher 1988 von Barry Levinson verfilmt wurde. Aufgrund von Hirnfehlbildungen, unter anderem dem Fehlen des Corpus callosum, entwickelte Kim Peek nicht nur eine autistische Störung, sondern war ebenfalls in der Lage, Informationen sehr schnell aufzunehmen und fast fehlerfrei wiederzugeben (Hyperlexie) (Hughes 2010). Er konnte mit je einem Auge eine Seite eines Buches in 8 Sekunden lesen. Seine Wiedergaberichtigkeit lag bei Erinnerungstests, welche direkt danach durchgeführt wurden, bei 98 %. Normale Probanden lesen eine Seite in 48 Sekunden und erreichen durchschnittlich eine Wiedergabegenauigkeit von 45 % (Hughes 2010). Kim Peek war aufgrund seiner Defizite in anderen Bereichen jedoch weder in der Lage einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen, noch selbständig sein Leben zu führen, geschweige sich selber anzuziehen (Wisconsin Medical Society 2010).

Laut Simner[5] besitzen Synästheten des Typus visuell-sequentiell gegenüber normalen Probanden massive Erinnerungsvorteile für das episodische und autobiografische Gedächtnis. Für beide Gruppen (Synästhetiker und Nicht-Synästhetiker) wurden die Jahreszahlen von Ereignissen, die während ihres Lebens stattgefunden hatten, abgefragt. Ebenfalls wurde ihr Wissen im Bereich „Ereignisse im Bereich Film und Musik“ getestet. Aus der Differenz zwischen der tatsächlichen Jahreszahl und der durch den Probanden angegebenen Jahreszahl für das Ereignis wurde eine Fehlerdistanz errechnet. Synästheten haben in allen Bereichen eine kürzere Fehlerdistanz als normale Probanden.

Neben Vorteilen im Erinnern von Ereignissen sind Synästhetiker ebenfalls besser in visuellen Aufgaben. Synästheten schnitten gegenüber normalen Probanden beispielsweise in Aufgaben zur Erinnerung räumlicher Anordnungen (3D-Test-Praxis) besser ab. Bei Tests zur Erkennung von 3D-Objekten anhand 2D-Bildern, bei Aufgaben zur Manipulation von 3D-Figuren anhand von 2D-Bildern (mental rotationtest) und bei Aufgabenstellungen zum visuellen Kurzzeitgedächtnisses (Patternstest) verzeichneten Synästhetiker ebenfalls erhebliche Vorteile gegenüber Nicht-Synästhetikern (Simner 2009). Es ist bemerkenswert, dass visuell spatiale Synästhetiker keine Defizite aufweisen, obwohl sie in Teilbereichen, welche mit ihrer Fähigkeiten zusammenhängen, überdurchschnittliche Leistungen erbringen können.

Eine Ähnlichkeit wird zu den Savants gesehen, die Inselbegabungen aufweisen, jedoch an Autismus oder Asperger-Syndrom leiden. Mit früheren Forschungsdaten zum Savant-Syndrom korrespondiert, dass die mentalen Vorteile der Synästheten nicht auf einen allgemeinen Intelligenzfaktor rückführbar sind. Simner[5] hat in ihrer oben bereits erwähnten Untersuchung an Synästhetiker und Nicht-Synästhetiker mit dem „National Adult Reading Test“, welcher mit dem Wechsler Intelligenztest zu 0,6 korreliert und ein Intelligenztest für prämorbide Intelligenz darstellt, keine Unterschiede zwischen Synästhetiker und Nicht-Synästhetiker bezüglich ihrer allgemeinen Intelligenz nachweisen können. In Bezug auf die Leistung in visuellen Aufgaben stellte Simner[5] fest, dass die Vorteile der Synästhetiker gegenüber Nicht-Synästhetiker nicht direkt durch Vorteile in visuell räumlichen Fähigkeiten begründet sind, sondern nur durch das Vorliegen der Synästhesie erklärt werden können. Durch die mentale Repräsentation des inneren Kalenders haben die Synästhetiker des visuell spatialen Typus die Möglichkeit, leichter auf Gedächtnisinformationen zuzugreifen, was Ihnen in Bezug auf das episodische und autobiografische Gedächtnis erhebliche Vorteile gegenüber normalen Probanden verschafft.

Es gibt empirische Daten, welche ebenfalls die Behauptung stützen, dass Savants über ähnlich hoch zugängliche innere Repräsentationen verfügen[6]. Auch Simner[5] hat in ihrer Studie versucht eine Verbindung zwischen dem Savant-Syndrom und dem spatial-sequentiellen Typus der Synästhesie herzustellen. Ihre Argumentation baute darauf auf, dass es einen Fall A. J. gibt, welche ebenfalls einen visuell spatialen Kalender besitzen würde, sich jedoch nicht gegen ihre Erinnerungsflut wehren könne (hyperthymestisches Syndrom), was an das Savant-Syndrom erinnert. Im Gegensatz zu den Synästheten, wie sie Simner[5] in ihrer Studie untersucht hatte, kann A. J. nicht vollständig kontrollieren, woran sie sich erinnert. Selbst der kleinste Trigger kann eine Kaskade an zusammenhängenden Erinnerungen hervorrufen. Das ständige Wiederaufrufen der Erinnerung führt dazu, dass sich A. J. intensiv mit ihrer Vergangenheit und ihren Erinnerungen auseinandersetzt, was einer Obsession, wie sie bei einer Inselbegabung anzutreffen ist, gleichkommt. Im Gegensatz zum Savantsyndrom bildete A. J. jedoch kein domänen-spezifisches Wissen aus und wies in anderen Bereichen keine gravierend beeinträchtigenden Defizite auf.

Simner[5] schloss daraus, dass das Vorliegen einer Synästhesie im Zusammenhang mit Obsession, wie sie beispielsweise bei Autisten zu finden ist, die Wahrscheinlichkeit eines hyperthymestischen Syndroms steigert. Aus den Gemeinsamkeiten, welche der Fall A. J. sowohl zur Synästhesie, wie auch zum Savant Syndrom aufwies, kann man sich weiter die Frage stellen, inwieweit Synästhesie, Autismus und das Savant-Syndrom zusammenhängen. Dabei ist der Vergleich zwischen einer Inselbegabung und kreativem Denken, wie sie durch Vernetzung verschiedener Hirnregionen erklärt wird, ebenfalls von Interesse (Simner 2010, Chakravatry 2010, Murray 2010, Hughes 2010).

Murray[6] führte die Fähigkeiten der visuell spatialen Synästhetiker auf die Fähigkeit der Reifikation zurück. Unter Reifikation wird die Fähigkeit, abstrakte Konzepte in konkrete Darstellungen zu transferieren, verstanden. Auf die Untersuchung von Simner[5] bezogen, würde dies heißen, dass normale Probanden bei der Abfrage der Ereignisse ihr Gedächtnis abgefragt hätten, bis Ihnen die Information in den Sinn gekommen wäre, während die Synästhetiker ihren visuell spatialen Kalender zur Hilfe genommen hätten. In extremen Fällen der Synästhesie könnten die Synästhetiker ihren inneren Kalender einer Inspektion unterziehen und die Information direkt ablesen.

Simners[5] Untersuchung zeigte, dass die untersuchten Synästhetiker neben Erinnerungsvorteilen ebenfalls über Vorteile in visuell räumlichen Aufgaben verfügten. Dies deutet darauf hin, dass Synästhetiker dieses Typus ihre Fähigkeiten auf neue Aufgaben transferieren können. Laut Simner[5] können sie Objekte besser aus dem Gedächtnis visuell imaginieren und besitzen deshalb erhebliche Vorteile mentale Bilder zu kreieren.

Synästhesie und Musik

Klaviatur mit Ton-Farbe-Zuordnung nach Skrjabin
Die Tonarten und Farben nach dem Quintenzirkel angeordnet

Als besondere Form der Synästhesie gibt es die Musik-Farben-Synästhesie: Dabei handelt es sich um das Erzeugen von Farbeindrücken durch Töne. Diese Form der Synästhesie basiert somit auf Notennamen, Tonhöhen, Tonarten, Klangfarben und akkordischen Strukturen. Ändert man einen Ton, so ändert sich auch die synästhetisch empfundene Farbe beziehungsweise Farbkombination.[7]

Bei der auditiv-visuellen Synästhesie gibt es sogenannte Korrespondenzregeln: So kommt es bei Veränderung von Lautstärke, Ton oder Tempo zum Variieren von Formen, Größen der Objekte und Helligkeiten.

Beim absoluten Gehör ist die Empfindung einer bestimmten, korrekten Tonhöhe unabhängig von einem hörbaren Ton. Der Absoluthörer kann sich zu einer beliebigen Tonbezeichnung oder einer bestimmten Klaviertaste die dazugehörige Tonhöhe vorstellen und wahrnehmen, ohne sie zu hören und spielen oder singen zu müssen. Die gleichzeitige Wahrnehmung von Tonhöhe und Tonbezeichnung oder von Tonhöhe und Klaviertaste kann häufig auch mit der Empfindung von Farben einhergehen, so dass sogar drei Wahrnehmungen gleichzeitig auftreten: Klaviertaste, Tonhöhe und Farbe oder Tonbezeichnung, Tonhöhe und Farbe. Der Komponist Michael Torke sagt, dass „er sich nicht vorstellen kann, dass seine Klaviertasten-Farben-Synästhesie ohne absolutes Gehör möglich wäre“.[8] Auf der anderen Seite hatte der Komponist Alexander Nikolajewitsch Skrjabin kein absolutes Gehör und verfügte dennoch über eine Klaviertasten-Farben-Synästhesie.[9]

Emotionales Erleben von Musik wird durch die visuelle Reaktion verstärkt. Die Synästhesie ist also zusätzlich, stört dabei aber keinesfalls das musikalische Empfinden.

Synästhesie und Fantasie bzw. Kreativität

Chakravatry (2010) beschreibt Kreativität als komplexes neuropsychologisches Phänomen, bei dem es hauptsächlich darum gehe, neue Verbindungen zu verstehen und auszudrücken. Nach Graham Wallas von 1926[10] werden bei diesem kreativen Prozess vier Stufen durchlaufen: Präparation, Inkubation, Illumination und Verifikation. Präparation ist dabei der Aufbau der Fähigkeiten oder der Wissensbasis, welche eine kreative Leistung auf einem Gebiet erst ermöglichen. Einstein und Newton beispielsweise mussten sich jahrelang durch ihre Studien auf ihre Entdeckungen vorbereiten. Auch andere kulturelle Leistungen sind erst nach einer gründlichen Vorbereitungsphase möglich. Die nächste Phase wäre die Inkubationsphase, welche ebenfalls zu einer Art Vorbereitung gehört. Laut Chakravarty (2010) gehört diese Phase zu einem vorbereiteten Geist.

Laut Hélie et al. (2010) ist bei Inkubation eine Art implizite Prozessierung der aufgenommenen Informationen beteiligt. Inkubation wird von Chakravatry (2010) als ein Phänomen beschrieben, welches zwischen impliziter und expliziter Verarbeitung und impliziten und expliziten Wissen zu bestehen scheint. Danach wird die Phase der Illumination durchlaufen, welche man als eine Art Heureka-Erlebnis verstehen kann. Es ist der Moment in dem sich die Zeit der Vorbereitung und der Inkubation in einer Idee oder einer Entdeckung manifestieren. Als letzte Stufen nennt Graham Wallace 1926[10] die kritische Prüfung einer Hypothese, einer Idee oder einer Entdeckung wie sie im wissenschaftlichen Diskurs üblich und notwendig ist.

Einige Savants sind durch ihre Begabung und ihrem Wissen in einem spezifischen Feld fähig, enorme kreative Leistungen zu erbringen (Chakravatry 2010). Es ist nicht die allgemeine Intelligenz, welche die Inselbegabten dazu befähigt, sondern eine spezifische Intelligenz in einer Domäne. Das Wissen, welches sie über Jahre angehäuft haben, kann dabei als eine Art fundierte Präparation angesehen werden. Synästhetiker des visuell spatialen Typus haben durch Reifikation die Möglichkeit, konventionellen Wegen des Denkens zu entfliehen. Sie können Objekte imaginieren und manipulieren und dadurch andere Wege zu einer Lösung finden, vor allem, wenn es sich dabei um Aufgaben im visuellen Bereich handelt. Als Beispiel für solch synästhetisches Denken nennt Chakravarty (2010) Richard Feynman, einen Nobelpreisträger und Physiker, welcher seine Konzepte zuerst visuell imaginiert und sie erst darauf hin in mathematische Formeln übersetzt.

Indem Synästhetiker Sinne verbinden können, welche ansonsten unverbunden sind, können sie neue Herangehensweisen für bestimmte Bereiche finden. Dies könnte ein Vorteil in der Phase der Inkubation und Illumination sein, denn die gedankliche Freiheit[10], Vorteile in der Perzeption (Hughes 2010) und die Möglichkeit neue unkonventionelle Denkweisen anzuwenden bzw. der Transfer von synästhetischen Fähigkeiten auf verwandte Aufgaben- und Problemstellungen (Simner 2006), kann sich positiv auf die Ideenproduktion und den kreativen Prozess insgesamt auswirken. Es gibt aus dem Bereich der Literatur und Musik verschiedenste Beispiele, welche nahelegen, dass Synästheten durch ihre spezielle Begabung zu besonders kreativen Leistungen fähig sind. Chakravarty selbst nennt 2010[10] niemand geringeres als Kandinsky, Baudelaire und Rembrandt.

Laut Chakravarty (2010) würden viele Künstler mit Synästhesie oftmals ihre Fähigkeiten einsetzten, um Sinneseindrücke in einem anderen Kanal zu kommunizieren. Außerdem würde die Vernetzung verschiedener Sinne und verschiedener Hirnareale zum divergenten Denken und damit zur Kreativität beitragen. Neurologisch würde sich dieser Umstand dadurch äußern, dass Hyperkonnektivität zwischen ansonsten nicht oder weniger verbundenen Hirnarealen bestehen würde[10]. Bei Synästheten des visuell spatialen Typus ist der Gyrus angularis besonders hyper- oder hypostimuliert. Dies ist interessant, wenn man seine zentrale Lage als Verbindungsstelle in Betracht zieht. Die Koaktivierung verschiedener Arealen des Gehirns würde zu einer Lösung einer Fixierung und einer Steigerung der Ideenproduktion beitragen[10]. Synästheten, welche im Alltag regelmäßig eine Koaktivierung verschiedener Hirnbereiche erleben, scheinen diese Fähigkeiten ebenfalls auf kreative Weise einsetzen zu können und schneiden auch bei Test zum divergenten Denken und zur Kreativität besser als normale Probanden ab[5].

Auch Savants scheinen eine höhere Vernetzung lokaler Regionen aufzuweisen (Hughes 2010). Gleichzeitig scheinen globale Vernetzung weniger vorhanden zu sein und eine zentrale Steuerung weitgehend gehemmt zu sein, was sich durch eine autistische Störung zeigt (Hughes 2010). Treffert[11] nannte dies „die Beendigung der Tyrannei der linken Gehirnhälfte“. Durch eine Verletzung des linken Frontallappens würde es der rechten Gehirnhälfte ermöglicht, die Savantfähigkeiten zu entwickeln[11]. Diese Fakten stützen die These, dass Synästhesie durch eine Koaktivierung und ungewöhnliche Vernetzung von Hirnarealen zu Stande kommt. Außerdem deuten sie auf eine Verwandtschaft des Savant Syndroms mit der Synästhesie hin.

Geschichte der Synästhesieforschung

1866 wurde der Begriff Synästhesie vom Neurophysiologen Alfred Vulpian erstmals gebraucht. Dieser versuchte dadurch ein Wort zu kreieren, das den Transfer von Reizen auf Nerven, die nicht für die Weiterleitung der Reize spezifisch sind, beschreibt. Bis heute hat sich der Begriff aber auch für spezifische produktive Verfahren in künstlerischer und literarischer Darstellung durchgesetzt. Er setzt sich zusammen aus den altgriechischen Wörtern syn (zusammen) und aisthesis (Empfindung). Bis dato haben viele Wissenschaftler versucht, neue, andere Namen für das Phänomen zu finden. Am geläufigsten ist der französische Begriff audition colorée (Abk. a. c.), der mit „farbig hören“ zu übersetzen ist und sich auf eine sehr häufig vorkommende Form der Synästhesie bezieht.

Man kann sagen, dass tatsächliche Forschung zur Synästhesie erst ab dem 20. Jahrhundert betrieben wurde, diese wurde im Verlauf systematischer, jedoch unter der Bedingung, dass das Interesse an dem Thema unbeständig war. Viele verschiedene Disziplinen versuchten sich mit Erklärmodellen, was letztendlich zu der Erkenntnis führte, dass Synästhesie die Grenzen von Wissenschaftsdisziplinen ignoriert. Diese Erkenntnis wurde erst ab 1925 in Deutschland umgesetzt, fortan konnte man von „Synästhesieforschung“ sprechen. Insbesondere Georg Anschütz und sein Assistent Friedrich Mahling sowie Albert Wellek publizierten über dieses Thema, doch hierzu weiter unten.

Wegbereitend für Begriffsfindungen und Grundlagen der eben beschriebenen Synästhesieforschung sind die beiden Schweizer Mediziner Eugen Bleuler und Lehmann. Sie brachten bereits 1881 eine Studie mit 77 Testpersonen zur Synästhesie heraus. Um einen Ansatz und eine gemeinsame Sprache in Hinblick auf die Lösung des Problems zu finden, schufen sie folgende Kategorien, die sich auf die Natur der Synästhesie bezogen:

  • Schallphotismen
  • Lichtphotismen
  • Geschmacksphotismen
  • Geruchsphotismen
  • Farb und Formvorstellung für Schmerz, Wärme und Tastempfinden
  • Farbenvorstellung für Formen

Der Wissenschaftler Théodore Flournoy veröffentlichte 1893 „Des Phenomenes des Synopsie“, ein Standardwerk dieser Zeit. Inspiriert von der Arbeit von Bleuler und Lehmann, fügte er weitere Punkte an, um Synästhesien zu unterscheiden. So wollte er, neben der Natur der Synopsie nach Bleuler und Lehmann, außerdem die originen sensoriellen Ursachen („Idee“) und die Intensität der Synopsien betrachten. Des Weiteren teilte er die Phänomene der Synopsie in

  • Photismen
  • Schemata (Schemes) a) Symbole b) Diagramme
  • Verkörperungen (Personnifications)

Flournoy war zudem Mitglied einer Kommission des „Congres international des Psychologie physiologique“ (1890), dessen Aufgabe es war, sich mit audition colorée-Phänomenen zu befassen und stellte zudem prinzipielle Fragen in Bezug auf die Synästhesie, so ob sie angeboren oder erworben, psychologisch oder physiologisch und eine Vorstellung oder tatsächliche Empfindung sei. In diesen Zusammenhang beeinflusst Flournoy verschiedene Wissenschaftler, Richard Henning zum Beispiel vermutet 1896 zum einen „physiologisch chromatische Synopsien“ (also zwangsmäßige und ohne eigenes Zutun hervorgerufene Synopsie) sowie „psychologisch chromatische Synopsien“ (also urteilsmäßig entstandene, aber enge und untrennbare Verknüpfungen).

Deutlich wurde, dass das synästhetische Problem, und darin einigte man sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts, eine Analogiebildung forderte und damit eine Zusammenführung und Zusammenarbeit der Disziplinen auf der Suche nach der „höheren Formel“, „verborgenen Synthese“ (Goethe). Doch vorerst forschten die Vertreter einzelner Wissenschaften allein. Eine Auflistung der Herangehensweisen der verschiedenen Wissenschaften erfolgt in Friedrich Mahlings Aufsatz „Das Problem der audition colorée“ von 1926.

Neurophysiologische Erkenntnisse

Große technische Fortschritte in den 1980er und 1990er Jahren erlaubten es den Forschern, das menschliche Gehirn genauer zu untersuchen. Durch neurophysiologische Untersuchungsmethoden wie die funktionale Kernspintomographie (fMRT) oder das EEG konnten die Wissenschaftler das Geschehen im Gehirn nachvollziehen und erkennen, wann welcher Teil des Gehirns aktiv ist. Neurowissenschaftler wie Richard Cytowic vermuten nun, dass jeder Mensch von Geburt an über Nervenverbindungen zwischen dem sensorischen System, das den auslösenden Reiz verarbeitet, und demjenigen, in dem ein zusätzlicher Sinneseindruck entsteht, verfügt. Die Fähigkeit zur Synästhesie sei demnach angeboren und nicht erlernbar.

Cytowic fand bei Untersuchungen der Gehirne von Neugeborenen heraus, dass diese Nervenverbindungen nach ca. drei Monaten anfangen zu verkümmern oder ganz zu verschwinden. Die Tatsachen, dass die Synästhesie eher bei Kindern als bei Erwachsenen vorkommt und dass Synästhetiker den Beginn ihrer Synästhesie in ihrer Kindheit ansetzen („seitdem ich denken kann“), belegen die Erkenntnisse des Wissenschaftlers. Dieser vermutet weiter, dass einige Menschen über bestimmte Gene verfügen, die helfen, diese Verbindungen und somit die Synästhesie beizubehalten.

Psychologen konnten nachweisen, dass Synästhetiker im Vergleich zu einer Normstichprobe bessere Leistungen bei einem Gedächtnistest erbringen konnten.[12]

Die Vererbbarkeit von Synästhesie lässt darauf deuten, dass Gene einen Einfluss über die Ausbildung dieses Phänomenes haben. Dies kann aber nicht der alleinige Faktor sein, da eineiige Zwillinge untersucht wurden[13], welche verschiedene Synästhesien zeigten. Die Vermutung, dass Synästhesie X-Chromosomal vererbt wird, konnte bisanhin weder wissenschaftlich bestätigt noch verworfen werden.

Als „Beweis“ dafür, dass Synästhesie kein Produkt von gesteigerter Fantasie oder mnemonischen Techniken ist, dient die folgende Erkenntnis[14]: Die V4/V8-Region im Gehirn ist die visuelle Region, die der Verarbeitung von Farben dient. In jeder Gehirnhälfte gibt es eine V4/V8-Region. Bei Wort-Farbsynästhetikern springt das linke V4/V8-Areal lediglich auf Wörter, jedoch nicht auf Farben an. In der linken Gehirnhälfte liegt auch unsere Hörregion.

Beispiele

Im Folgenden sind zur Veranschaulichung einige Möglichkeiten aufgeführt, wie Synästhetiker Farben assoziieren - nicht allerdings real sehen - können.

Manche Synästhetiker nehmen bei Texten bestimmten Buchstaben fest zugeordnete Farben wahr. Hierbei ist interessant, dass Synästhetiker unter Umständen schon an der Häufigkeit und Verteilung der Farben erkennen können, um welche Sprache es sich handeln könnte, ohne die Wörter zu identifizieren.

In der Dichtung

In der Rhetorik steht der Begriff für das Vermischen von Sinnesebenen. Vor allem bei Romantikern war diese Art der Gefühlsübermittlung beliebt.

Viele Lyriktheorien gehen sogar so weit, dass sie nicht ein Vermischen von zuvor Getrenntem annehmen, sondern grundsätzlich abstreiten, dass sich Sinnesbereiche klar voneinander trennen lassen. In der Lyrik komme dieser Umstand eben nur besonders deutlich zum Vorschein,[15] wie in diesen Versen von Brentano

Hör, es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen,
Golden weh'n die Töne nieder –
Stille, stille, laß uns lauschen!

Holdes Bitten, mild Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht.

Gesehenes, Gehörtes, Gefühltes: „Golden“ (Gesichtseindruck), „weh'n“ (Gefühlseindruck), „die Töne nieder“ (Gehöreindruck) werden hier durchmischt. Noch stärker in der letzten Zeile: „Blickt zu mir der Töne Licht.“ Zwar lassen sich solche Sätze nicht analytisch auflösen und jedem einzelnen Wort ein Gegenstand unserer Erfahrung zuweisen, trotz allem aber ist der Satz nicht schlechthin bedeutungslos und unverständlich. In der modernen Lyrik ist die Dichtung Georg Trakls ein gutes Beispiel für die Verwendung synästhetischer Elemente.

Philosophische Aspekte

Zwar stellt sich kein konkretes Bild beim Lesen des Verses ein, aber er gibt trotz allem etwas zu verstehen. Dabei ist das, was er aussagt, eindeutig, obwohl ihm kein Gegenstand in der Welt unserer Erfahrung korrespondiert. Dies geschieht, da sich Sinnliches und Inhaltliches in solcher Dichtung nicht trennen lassen: Es gibt keine »Aussage« des Gedichts, die unabhängig von ihrer sprachlichen Form wäre. Nicht erst hat der Dichter eine »Idee«, die er dann versprachlicht, sondern in der Sprache selbst geschieht das Ver-dichten.

Der synästhetische Charakter der Dichtung ist also aufs Engste mit der Alltagssprache verbunden, die – anders als wissenschaftliche analytische Begriffe – die Welt unserer Erfahrung stets in ihrer Mannigfaltigkeit abbildet, ohne dabei grundsätzlich zwischen verschiedenen physikalischen Sinnesregionen zu trennen. Eine solche scharfe Trennung bringt erst die wissenschaftliche Erfassung der Welt, indem sie die Begriffe von Raum und Zeit zu ihren obersten Maßstäben macht unter denen von nun ab alles verortet wird. Nach Martin Heidegger ist jedoch eine solche raum-zeitliche Trennung, eine metaphysisch-philosophische Annahme, ein Dogma, welches die Welt in einem verzerrten Lichte zeigt. Denn seine Rechtmäßigkeit erweist der Primat von Raum und Zeit nur am praktischen Erfolg der Wissenschaften, also der Naturbeherrschung, dass er aber als metaphysische Ansicht den einzig wahren Zugang zur Welt darstellt, kann er nicht aus sich selbst erweisen.[16] Heideggers Ansprüche, die metaphysische Betrachtung zu überwinden, reichen jedoch weit über das wissenschaftliche Konzept der Synästhesie hinaus, da diese trotz möglicher Vermischungen von einer grundsätzlichen Scheidung der Sinnesbereiche ausgeht. Betrachtet man die Synästhesie im Kontext der abendländischen Geschichte menschlicher Wahrnehmungstheorien, dann wird deutlich, dass die Sinnesbereiche erst durch die Trennung von leiblichem Empfinden und geistigem Erkennen voneinander geschiedenen wurden.[17] In den antiken Wahrnehmungslehren wurde die Beziehung der Sinne untereinander noch symbiotisch gedacht und auch im frühen Christentum finden sich zahlreiche synästhetische Beschreibungen, mit denen vor allem die Wahrnehmung Gottes gepriesen wird. Erst im 15. Jahrhundert begann die leiblich sinnliche Weltwahrnehmung zugunsten einer zunehmend intellektuellen Welterkenntnis in den Hintergrund zu rücken. Der damit verbundene Entsinnlichungsprozess war mit einer Dissoziierung der Sinne und ihrer Spezialisierung verbunden. Sie wurden im weiteren Verlauf nach und nach techn(olog)isch aufgerüstet. Diese Entwicklungen führten dazu, dass die Synästhesie als leibliche Form der Wahrnehmung in Vergessenheit geriet. Der erst in den Lexika des 19. Jahrhunderts nachweisbare Begriff der Synästhesie wird daher entweder als poetische oder sprachmagische Technik geführt, die als kühn gelobt oder pathologisch verachtet wurde. In medizinischen Lexika der gleichen Zeit wird die Synästhesie hingegen als Verwechslung physiologischer Vorgänge definiert. Erst im 20. Jahrhundert, das im Zuge einer somatischen Wende auf die Entsinnlichung reagierte, begann man die Synästhesie als kognitives Phänomen bzw. als genetisches Relikt wissenschaftlich wiederzuentdecken.[18]

Siehe auch

Literatur

  • G. Beeli, M. Esslen M., Lutz Jäncke: When coloured sounds taste sweet: An extraordinary type of gustatory synesthesia. Nature, 434, 38, 2005.
  • Valeri Brainin: Employment of Multicultural and Interdisciplinary Ideas in Ear Training („Microchromatic“ Pitch. „Coloured“ Pitch).. In: Proceedings: International Society for Music Education 28th World Conference, Bologna, 2008, p. 53-58, ISBN 9780980456028
  • David Brang, V. S. Ramachandran: Survival of the Synesthesia Gene: Why Do People Hear Colors and Taste Words? In: PLoS Biol 9(11): e1001205. Volltext: doi:10.1371/journal.pbio.1001205. Zugehöriges Gespräch mit V. S. Ramachandran
  • Patricia Duffy: Jeder blaue Buchstabe duftet nach Zimt – Wie Synästhetiker die Welt erleben, Goldmann 2003, ISBN 3-442-15242-9
  • Hinderk M. Emrich, Udo Schneider, Markus Zedler: Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: Das Leben mit verknüpften Sinnen, Stuttgart (Hirzel) 2002, ISBN 3-7776-1114-X
  • John Harrison: Wenn Töne Farben haben, Springer-Verlag, Heidelberg 2007 ISBN 978-3-8274-1864-7
  • Michael Haverkamp: Synästhetisches Design - Kreative Produktentwicklung für alle Sinne Carl Hanser Verlag, München 2009 ISBN 978-3446412729
  • Lawrence E. Marks: The Unity of the Senses. Interrelations among the modalities, Academic Press, New York, 1978.
  • Anna K. Rowedder: Für Dich. Synästhesie - Eine Reise in die Welt der Wahrnehmung. Luxemburg: Synaisthesis 2009. ISBN 978-99959-622-1-0
  • Natalia Sidler, Jörg Jewanski: Farbe - Licht - Musik: Synästhesie und Farblichtmusik. Peter Lang, Bern u.a.O. 2006. ISBN 3-03910-636-8
  • Jasmin Sinha (Hg.): Synästhesie der Gefühle. Luxemburg: Synaisthesis 2009. ISBN 978-99959-622-6-5
  • J. Simner, N. Mayo, M. Spiller: A foundation for savantism? Visuo-spatial synaesthetes present with cognitive benefits. Cortex 45, 2009, 1246-1260.
  • J. Ward, J. Simner: Is synaesthesia an x-linked dominant trait with lethality in males? Perception 34, 2009, 611–623
  • Eva Kimminich: Synästhesie und Entkörperung der Wahrnehmung. Bemerkungen zur einer historischen Entwicklung in Europa vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Semiotik 2002, S. 71-109.

Weblinks

Commons: Synesthesia – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Synästhesie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Allgemeine

Forschung

Tests

Vereinigungen

Beschreibungen

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 K. J. Barnet: Familial patterns and the origins of individual differences in synaesthesia. In: Cognition. 106. Jahrgang, Nr. 2, 2008, S. 871–893.
  2. Simner, J.: Synaesthesia: The prevalence of atypical cross-modal experiences. In: Perception. 35. Jahrgang, Nr. 8, 2006, S. 1024–1033.
  3. Domino G: Synesthesia and Creativity in Fine Arts Students: An Empirical Look. In: Creativity Research Journal. 2. Jahrgang, Nr. 1-2, 1989, S. 17–29.
  4. Nicolas Rothen, Beat Meier: Higher prevalence of synaesthesia in art students, Perception, 2010 volume 39 (5), S. 718 – 720, doi:10.1068/p6680
  5. 5,00 5,01 5,02 5,03 5,04 5,05 5,06 5,07 5,08 5,09 5,10 5,11 5,12 J. Simner: Synaesthetes visuo-spatial forms: Viewing sequenzes in space. Cortex 45, 2009, 1138–1147
  6. 6,0 6,1 6,2 A. L. Murray: Can the existence of highly accessible concrete representations explain savant skills? Some insights from synesthesia. In: Medical Hypotheses 74, 2010, 1006-1012 Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „Murray2010“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  7. John B. Carroll and Joseph H. Greenberg: Two cases of synesthesia for color and musical tonality associated with absolute pitch ability, Ammons Scientific, Volume 13, Seite 48, August 1961
  8. Siehe Oliver Sacks in: Musicophilia, Kapitel 14 The Key of Clear Green: Synesthesia and Music
  9. Siehe Der Synästhet Skrjabin
  10. 10,0 10,1 10,2 10,3 10,4 10,5 zitiert nach Chakravatry 2010
  11. 11,0 11,1 D. A. Treffert: The savant syndrome: an extraordinary condition. A synopsis: past, present, future. Philos Trans Royal Soc 364, 2009, 1351-1357
  12. Nicolas Rothen, Beat Meier: Grapheme-colour synaesthesia yields an ordinary rather than extraordinary memory advantage: Evidence from a group study. Memory, 3 April 2010, Volume 18, S. 258 - 264, doi:10.1080/09658210903527308
  13. Smilek, D.: Synaesthesia: Discordant male monozygotic twins. In: Neurocase. 11. Jahrgang, Nr. 5, 2005, S. 363 - 370.
  14. Nunn, JA.: Functional magnetic resonance imagine of synesthesia: activation of V4/V8 by spoken words. In: Neuroscience. 5. Jahrgang, Nr. 4, 2002.
  15. Vgl. beispielsweise die Schrift von Johannes Pfeiffer: Umgang mit Dichtung. Leipzig 1949.
  16. Vgl. beispielsweise Martin Heidegger: Hölderlins Hymne »Der Ister«. Heidegger-Gesamtausgabe Band 53.
  17. Siehe dazu Eva Kimminich, „Synästhesie und Entkörperung der Wahrnehmung. Bemerkungen zur einer historischen Entwicklung in Europa vom 17. bis zum 20. Jahrhundert”, in: Zeitschrift für Semiotik, S. 71-109.
  18. Siehe Richard Cytowic, The Man who tasted Shapes. A Bizarre Medical Mystery Offers Revolutionary Insights into Emotions, Reasoning, and Consciousness. New York: Verlag Tarcher & Putnam 1989, 64f, 138. Deutsch von H. Schickert, Farben hören, Töne schmecken. Die bizarre Welt der Sinne. Berlin: Byblos 1995.

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