Reaktionsnorm


Die Reaktionsnorm ist ein Begriff aus der biologischen Vererbungslehre. Er vermittelt, wie sich die Umwelteinflüsse während der individuellen Entwicklung (Ontogenie) eines Lebewesens aufgrund seiner Gene auswirken, so dass seine Merkmale ihre konkrete Ausprägung (Phänotyp) erhalten.

Setzt man erbgleiche Lebewesen verschieden beschaffenen Umwelten aus, so werden sie in vielen Merkmalen unterschiedliche Erscheinungsformen entwickeln. Setzt man umgekehrt genetisch unterschiedliche Lebewesen der gleichen Art der gleichen Umwelt aus, so entwickeln sie allein aufgrund der unterschiedlichen Gen-Allele verschiedene Erscheinungsformen. In realen Populationen in realen Lebensräumen herrscht deshalb eine phänotypische Variabilität, die sowohl auf die genetische Variabilität zwischen den Individuen als auch auf die Variabilität der individuell erlebten Umweltparameter zurückgeht.

Funktionale Betrachtung

Die Reaktionsnorm lässt sich mathematisch als eine durch die Gene festgelegte Umsetzungsformel zwischen einem Umwelteinfluss und seinem phänotypischen Effekt verstehen und in der Form einer Funktionsgleichung nach dem Schema y = f(x) darstellen.

In einfachen Fällen betrachtet man die Wirkung eines einfachen Umweltfaktors auf ein einfaches Merkmal, zum Beispiel die von der Hauttemperatur abhängige Fellfarbe bei Siamkatzen:

Fellfarbe[hell/dunkel] = Reaktionsnorm[Farbgen] (Hauttemperatur[warm/kühl])

Man kann aber auch die Reaktionsnorm ganzer Artgenome auf komplexe Umwelten betrachten:

Wuchsform[langstielig, gelappt, haarlos/gedrungen, ganzrandig, haarig] =
= Reaktionsnorm[Genom Löwenzahn] (Standortbedingungen[Fettwiese/Alpenmatten])

Individuelle Reaktionsnorm

Bei Genen, welche, je nach Allel verschieden, ein bestimmtes Merkmal seines Trägerindividuums starr festlegen, wie zum Beispiel die Blutgruppe oder die Blütenfarbe, wäre die Reaktionsnorm eine Konstante.

Tatsächlich sind aber die wenigsten "Merkmale" eines Lebewesens so starr bestimmt. Bei vielen Tieren ist zum Beispiel die Haarfarbe abhängig von der Temperatur der Haarwurzeln. Ein Beispiel sind die dunkleren Fellpartien an den kühleren Extremitäten von Siamkatzen (siehe oben) oder die wechselnde Fellfarbe von Schneehasen. Auch bei Blütenfarben gibt es solche Temperaturabhängigkeiten.

Populationsgenetische Reaktionsnorm

Variable Umwelten, variable Genome und komplexe "Merkmale" der Lebewesen können meist nur noch statistisch in Zusammenhang gebracht und interpretiert werden. In diesem Zusammenhang steht zum Beispiel die brisante Diskussion über die genetische und/oder umweltbeeinflusste Ausprägung der Intelligenz von Menschen. Sie ist mit Sicherheit genetisch mitbestimmt, da die Summe aller Gene bei gleicher Umwelt aus einer Katze eine Katze und aus einem Menschen einen Menschen machen wird. Diese Argumentation lässt sich dann auch auf unterschiedliche Menschenpopulationen und schließlich auf Individuen reduzieren.

Letztlich ist es auch die Reaktionsnorm, an der die Selektionsmechanismen der Evolution ansetzen. Wird durch eine Mutation die Reaktionsnorm so verändert, dass eine bessere Entfaltung in bestimmten Standortbedingungen möglich ist, so bedeutet dies erhöhte Fitness, also eine erhöhte Fortpflanzungsrate im Vergleich zur restlichen Population.

Ökologische Reaktionsnorm

Die Reaktionsnorm aller Individuen einer Population kann integriert werden zur Reaktionsnorm der Population in einem Ökosystem. Das führt dazu, dass an unterschiedlichen Standorten die Angehörigen von Populationen der gleichen Art unterschiedliche Eigenschaften aufweisen und im Extremfall zunächst gar nicht als zur gleichen Art gehörig erkannt werden.

Ein Beispiel hierfür ist das höchst unterschiedliche Aussehen von Löwenzahn-Pflanzen auf fetten Wiesen und im Gebirge, wo sie ganzrandige, raue, kleine Blätter und kurze, gedrungene Blütenstiele zeigen.

Die Reaktionsnorm bestimmt darüber, welche Lebensräume eine Art besiedeln kann und wie ihre ökologische Nische dort beschaffen ist.

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