Lippenlesen


Lippenlesen oder Ablesen bzw. Absehen vom Mund bezeichnet das visuelle Erkennen des Gesprochenen über die Lippenbewegungen des Sprechers. Die bei verschiedenen Lauten jeweils unterschiedlichen Stellungen der Lippen und der Mundregion einschließlich der von außen sichtbaren Zungenstellung werden als Mundbild bezeichnet.

Anwendungsbereiche

Gehörlose und hochgradig Schwerhörige können bei mündlicher Verständigung die Lautzeichen nicht oder nur zu einem geringen Teil erfassen. Sie sind daher im unmittelbaren Kontakt anderen Sprechern auf die Technik des Lippenlesens angewiesen. Lippenlesen ist dabei nicht die ausschließliche Verständigungsmöglichkeit. Ausweichmöglichkeiten liegen mit der Gebärdensprache und mit einer schriftlichen Verständigung vor.

Gebärdensprache kann auch teilweise mit Mundbildern dargestellte Worte oder codierte Sinnbilder enthalten, die dabei nicht unbedingt auch akustisch ausgesprochen werden. Auch hier wird dann die Technik des Lippenlesens angewandt.

Auch Schwerhörige, die mit einem Hörgerät versorgt sind, können fallweise nur Bruchstücke der Lautzeichen eindeutig erkennen, sie benutzen dann ebenfalls parallel zum „Hören“ das Lippenlesen.

Bis zu einem gewissen Grad benutzen auch Menschen mit unbeeinträchtigtem Gehör unbewusst diese Technik, um das Verständnis des Höreindrucks zu ergänzen bzw. abzusichern (McGurk-Effekt). In das Bewusstsein dringt diese Begleiterscheinung in diesen Fällen nur wenn beispielsweise bei einem ursprünglich fremdsprachigen Film durch die Übersetzung der Synchronisation die Mundstellung deutlich anders ist, als wenn sie dem gehörten Laut entspräche.

In der Kriminaltechnik werden Mundbilder bei Bildaufnahmen durch Sachverständige ausgewertet, wenn keine Tonaufnahme verfügbar ist. Anhand der Mundbilder kann die fehlende Tonaufzeichnung ersetzt werden, und somit ermittelt werden, was die aufgezeichneten Personen sprachen oder welcher Sprache sie sich bedienten.

Technik

Beim Sprechen werden die Sprechwerkzeuge des Menschen einschließlich des äußeren Mundbereichs in einer bestimmten Weise betätigt. Diese ist zwar bei jedem mehr oder weniger unterschiedlich, dabei aber auch mehr oder weniger ähnlich. Durch Beobachtung und Vergleich lassen sich daraus letztlich Muster für den visuell wahrnehmbaren Ablauf der Lippenbewegungen für bestimmte Laute oder Worte ableiten. Diese bewusst oder unbewusst gelernten Muster lassen grundsätzlich ein fortlaufendes Ablesen gesprochener Sprache vom Munde zu.

Die Ausführung und Stellung der Mundbilder sind vor allem im Bereich der Gehörlosenpädagogik und Schwerhörigenpädagogik bis zu einem gewissen Grad systematisch bewusst und können nachvollziehbar veranschaulicht werden. Das Lippenlesen wird in diesem Bereich mit der praktischen Vorführung und „Lese“-Übung typischer Mundstellungen und Mundbilderfolgen eingeübt. Hörgeschädigte Kinder müssen in diesem Bereich daher nicht das Lippenlesen jedes Mal von neuem entdecken und erfinden.

Lehrer im Bereich der Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik sprechen bewusst häufig mit besonders akzentiuerten Mundbewegungen und langsamer als im normalen Alltagsleben sowie auch mit ständigem Sichtkontakt zu den Schülern. Auch Laien die mit Tauben oder Schwerhörigen häufiger in Kontakt treten (wie z. B. Arbeitskollegen), gewöhnen sich oft eine optimierte Sprechweise an, die das Lippenlesen erleichtert.

Es kommt vor, dass eine bestimmte Person beim Sprechen untypische oder undeutliche Mundbewegungen vollführt. Eine hörgeschädigte Personen, die sehr häufig mit dieser im Sprechkontakt steht, kann durch das unbewusste intensive Training dann auch unter diesen ungünstigen Umständen erfolgreich lippenlesen. Anderen Hörgeschädigten, die die gleiche Person seltener treffen, gelingt das dann jedoch weniger gut.

Probleme

Von den Lauten der deutschen Sprache lassen sich nur etwa 15 % einigermaßen eindeutig am Mundbild erkennen. Vielfach haben unterschiedliche aber lautlich ähnliche Wörter nahezu identische Mundbildabläufe. Beispielsweise sind Butter und Mutter, Reifen und Greifen oder Achtzig und hat sich im visuellen Eindruck der Lippenbewegungen nicht unterscheidbar.

Auch Schwerhörige, die bei zusätzlicher Hörgeräteversorgung manchmal nur Bruchstücke des Gesprochenen mit dem Hörsinn erkennen und zusätzlich ebenso bruchstückweise mit dem Gesichtssinn „verstandene“ Informationen aufnehmen, müssen dies während der kurzen Wahrnehmungsspanne wie bei einem Kreuzworträtsel zusammenraten. Bei größerem Umfang – z. B. einem Vortrag – ist dies sehr anstrengend oder auch unmöglich.

Daher haben Gehörlose und Schwerhörige trotz Lippenlesen Mühe, Gesprochenes vor allem im größeren Umfang aufzufnehmen. Der Lückentext, der sich durch bruchstückhafte Wahrnehmung ergibt, kann bei viel Erfahrung und Wissen des Bedeutungszusammenhanges ergänzt werden, so dass geübte Lippenleser bei bekannten Themen bis zu 30 % eines Textes von den Lippen ablesen können. Personen mit geringem formalem Sprachwissen und Wortschatz können daher schlechter Lippenlesen.

Hilfreich, um die "Trefferquote" beim Mundablesen zu verbessern, sind unter anderem ein deutliches Mundbild. Sinnvoll ist es auch, zuerst kurz das Thema oder den Rahmen dessen zu erwähnen, wovon man sprechen will. Unterstützt der Redner seinen Text durch Gestik oder Mimik, werden mehr Inhalte erkannt.

Keine Hilfe ist übertrieben deutliche Aussprache, weil sie die Lippenstellungen verzerrt und modellhaft untypisch werden lässt. Das gilt auch für extrem langsames Sprechen. Ungünstige Lichtverhältnisse, Nuscheln oder mundartlich gefärbte Aussprache erschweren das Lippenablesen. Das Ablesen von den Lippen kann das Verstehen also nur unterstützen.

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