Was unser Gehirn formt: Jedes Netzwerk hat seinen Platz im Gehirn



Bio-News vom 28.09.2020

Bislang war unklar, warum ein Netzwerk sich dort befindet, wo es sich befindet. Wissenschaftler haben nun zwei Hauptachsen definiert, von "hinten" nach "vorn" und von "oben" nach "unten". Entlang derer sind die Hirnregionen genetisch organisiert und reichen von grundlegenden Fähigkeiten wie Handlung und Wahrnehmung bis hin zu Regionen, die abstraktes Denken unterstützen. Weiß man mehr über diese Achsen und ihre Herkunft, versteht man mehr über die Funktion und evolutionäre Vergangenheit der einzelnen Netzwerke.

Die Lage eines Landes auf der Erde sagt viel über sein Klima, seine Nachbarländer und die Ressourcen aus, die sich dort befinden. Sie bestimmt also, welche Art von Land man in dieser Gegend erwartet. Dasselbe scheint auch für das Gehirn zu gelten. Jedes Netzwerk befindet sich an einem speziellen Ort, der über seine Funktion und seine Nachbarn bestimmt, aber auch über die Komplexität der Funktion, die dort verarbeitet wird. Die Regeln nach denen sich die einzelnen Hirnregionen anordnen und in Beziehung zueinander treten, waren jedoch bisher kaum verstanden.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und des Forschungszentrums Jülich haben nun zusammen mit einem internationalen Forscherteam zwei Achsen entschlüsselt, entlang derer das menschliche Gehirn organisiert ist. Dabei zeigte sich, es sind vor allem genetische Faktoren, die die Lage entlang der Achsen bestimmen.


Das menschliche Gehirn ist entlang zweier Achsen organisiert. Dieses Prinzip scheint sich durch die Hirnorganisation aller Primaten zu ziehen.

Publikation:


Sofie L. Valk, Ting Xu, Daniel S. Margulies, Shahrzad Kharabian Masouleh, CaseyPaquola, Alexandros Goulas, Peter Kochunov, Jonathan Smallwood, B.T. Thomas Yeo, Boris C. Bernhardt, Simon B. Eickhoff
Shaping Brain Structure: Genetic and phylogenetic axes of macro-scale organization of cortical thickness
Science Advances (2020)

DOI: 10.1126/sciadv.abb3417



Eine Achse erstreckt sich demnach vom hinteren zum vorderen Stirnbereich der Großhirnrinde, dem Cortex. Daran spiegelt sich eine Hierarchie der Funktionen wider – von grundlegenden Fähigkeiten wie Sehen und Bewegung bis hin zu abstrakten, hochkomplexen Fähigkeiten wie Kognition, Gedächtnis und sozialen Fähigkeiten. Senkrecht dazu führt eine zweite Achse von der Hirnoberfläche (dorsal) in die Tiefe des Cortex (ventral). An der Oberfläche finden sich demnach eher Netzwerke, die Raum, Zeit und Bewegung verarbeiten, in der Tiefe eher solche, die sich auf Bedeutung und Motivation fokussieren.

"Interessanterweise stimmt diese vertikale Anordnung mit der seit langem vermuteten Hypothese des doppelten Ursprungs überein", sagt Sofie Valk, Forschungsgruppenleiterin am MPI CBS und am Forschungszentrum Jülich sowie Erstautorin der Studie, die jetzt in Science Advances veröffentlicht wurde. Nach dieser Hypothese entwickelte sich die Großhirnrinde aus zwei verschiedenen Ursprüngen - der Amygdala und dem olfaktorischen Cortex einerseits und dem Hippocampus andererseits. Daraus ergaben sich zwei verschiedene Entwicklungslinien, die Wellen von weniger zu stärker differenzierteren Bereichen widerspiegeln. Frühere Studien hatten solche Unterscheidungen zwar schon bei nichtmenschlichen Primaten und anderen Säugetieren gefunden. Die Wissenschaftler um Valk waren jedoch die ersten, die sie für den menschlichen Cortex nachwiesen. Neben der Längsachse scheint diese senkrechte Achse damit ein zweites wichtiges Organisationsprinzip zu sein.

Bestimmt wird diese Zwei-Achsen-Organisation wiederum weitgehend durch die genetische Beziehung der Hirnregionen zueinander, also durch gemeinsame genetische Effekte während der Entstehung. Das Prinzip scheint dabei, so ein weiteres Ergebnis der Studie, evolutionär sehr stabil zu sein. Denn der Vergleich mit den Gehirnen von Makaken zeigt ähnliche Achsen. "Für die Gestaltung unseres Gehirns sind also die Evolution und die Gene die entscheidenden Faktoren", erklärt Valk. "Gleichzeitig dürfen wir aber nicht vergessen, dass auch die Umwelt eine wichtige Rolle für dessen Ausgestaltung spielt." In der aktuellen Studie hätten sie sich zwar speziell auf die genetischen Effekte konzentriert. Andere Arbeiten ihres Teams hätten jedoch gezeigt, dass etwa auch Verhaltenstraining die Gehirnstruktur verändern können. Weitere Studien sind nun geplant, um zu verstehen, wie diese verschiedenen Faktoren zusammenwirken.

Die Hauptachsen der Gehirnorganisation zu verstehen, ist wie ein Kompass und kann helfen, sich im Gehirn besser zurechtzufinden. "Wir können die Entwicklung und Funktion bestimmter Regionen besser verstehen und die Auswirkungen von Hirnstörungen besser beurteilen", so Valk. Frühere Studien hätten etwa herausgefunden, dass sich die Organisationsachsen von Personen mit Autismus-Spektrum-Störung von denen Gesunder unterscheidet.

Untersucht haben die Wissenschaftler diese Zusammenhänge auf verschiedenen Ebenen. Zunächst verwendeten sie eineiige und zweieiige Zwillinge sowie nicht verwandte Personen, um zu modellieren, wie stark die Organisation des Gehirns genetisch bestimmt ist. Sind etwa bestimmte Verwandtschaftsbeziehungen bei eineiigen Zwillingen stärker als bei anderen Geschwistern, ist das vermutlich auf genetische Faktoren zurückzuführen. Mithilfe dieser Personengruppen ermittelten sie, wie die Dicke des Cortex innerhalb einer Gruppe miteinander korrelierte. Das lieferte ihnen Informationen darüber, wie die verschiedenen Hirnregionen strukturell und entwicklungsgeschichtlich miteinander in Beziehung zueinander stehen. Anhand dieser Informationen über die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen verschiedenen Hirnregionen berechneten sie schließlich die Hauptachsen, entlang derer genetisch ähnliche Hirnstrukturen organisiert sind. Zusätzlich dazu verglichen sie die Gehirnorganisation beim Menschen mit der bei Makaken. Als sie hier ähnliche Achsen fanden, schlussfolgerten sie, die Organisation ist über die gesamte Primatenevolution hinweg konserviert.


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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