Was war zuerst da – Schwimmblase oder Lunge?



Bio-News vom 19.10.2023

Haben Haie eine Schwimmblase, die ihnen wie den meisten anderen Fischen dabei hilft, im Wasser zu schweben? Diese Frage sorgte vor rund 150 Jahren noch für hitzige Diskussionen. Wie bereichernd diese auch heute noch sein können, das zeigen jetzt Forschende aus Jena und Tübingen. Sie haben einen Briefwechsel zwischen Charles Darwin und Ernst Haeckel aus dem Jahr 1868 entdeckt, in dem diese ausführlich über ein mögliches Schwimmblasen-Rudiment bei Haien diskutieren. Durch den schriftlichen Austausch der beiden Vordenker lässt sich die damalige Evolutionsforschung hautnah miterleben. Die Hauptrolle in diesem Austausch spielt aber ein weniger prominenter, jüngerer Kollege.

Ausschlaggebend für ihre Diskussion ist die Forschung von Haeckels damaligem Assistenten Nikolai Nikolajewitsch Miklucho-Maclay. Der russisch-stämmige Wissenschaftler, der später vor allem als Ethnologe Berühmtheit erlangte, begleitete seinen Lehrer im Herbst 1866 auf eine Forschungsreise auf die Kanarischen Inseln.

Publikation:


I. Werneburg, U. Hoßfeld, G. S. Levit
Darwin, Haeckel, and the “Mikluskan gas organ theory“
Developmental Dynamics (2023)

DOI: 10.1002/dvdy.661

Dort untersuchte er unter anderem die Gehirne von Haien und entdeckte dabei eher zufällig hinter den Kiemenöffnungen, oben im Übergang zum Darmbereich der Tiere, eine Ausstülpung. „Dieses Gebilde interpretierte Miklucho-Maclay als Rudiment einer Schwimmblase, die bei den Vorfahren aller Wirbeltiere vorhanden gewesen sein musste“, sagt Dr. Ingmar Werneburg vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment (SHEP) an der Eberhard Karls Universität Tübingen. „Haeckel war begeistert von dieser Entdeckung, da sie seine These unterstützte. Denn er ging davon aus, dass Haie ursprüngliche Wirbeltiere seien, aus denen die Knochenfische, die Lungenfische und später die Landwirbeltiere hervorgegangen wären. Somit wäre die Schwimmblase evolutionär vor der Lunge entstanden.“

Zeichnungen eines sezierten Hais von Miklucho-Maclay, Fig. 6 zeigt die betreffende Ausstülpung, die er für das Rudiment einer Schwimmblase hielt („b“ in Abb. 1-2)

Die Entdeckung teilte er in einem Brief seinem von ihm verehrten Kollegen Charles Darwin mit, der am 6. Februar 1868 allerdings eher skeptisch antwortete: „Ich verstehe nicht ganz, was Sie mir über seine Entdeckung der Schwimmblase erzählen […].“ Da der Brite in väterlichem Ton „Mikluska“ statt „Miklucho“ schrieb, blieb der Wissenschaftsgeschichte die Verbindung zu Haeckels Assistenten lange verborgen. Darwin hatte ein anderes Bild der Wirbeltier-Verwandtschaft im Kopf, was zur Verwirrung beitrug: „Er ging davon aus, dass die Lungenfische ursprünglich seien und sich alle Wirbeltiere – auch die Knorpelfische, zu denen die Haie gehören – daraus entwickelt hätten“, sagt Werneburg. „Entsprechend war für Darwin die Lunge das ursprüngliche Gas-Organ.“ Haeckel sollte aber mit seinem Stammbaumentwurf weitestgehend recht behalten, obwohl die Haie seit dem Ursprung aller Wirbeltiere natürlich auch eigenen Veränderungen ausgesetzt waren und heute nicht völlig den ursprünglichen Zustand repräsentieren.

Aber es gab noch einen anderen Streitpunkt: „Die von Miklucho-Maclay entdeckte Ausstülpung hielt Darwin nicht für eine rudimentäre Schwimmblase, sondern für eine undifferenzierte Struktur, aus der sich evolutionär einmal eine solche ausbilden könnte“, erklärt Werneburg. Heute sind sich die Forschenden weitgehend einig, dass Darwin mit dieser Einschätzung recht hatte.

„Es kommt selten vor, dass zwei Geistesgrößen einer Wissenschaft sich in ihrer Korrespondenz den Forschungsergebnissen eines bettelarmen und unbekannten Studenten widmen“, sagt Prof. Dr. Uwe Hoßfeld von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der seit einigen Jahren gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Georgy Levit das Wirken Miklucho-Maclays erforscht. Die gefundene Textstelle ist für ihn einmal mehr ein Beleg dafür, welch wissenschaftliches Vermächtnis der junge Russe hinterlassen hat und welchen Einfluss er in wenigen Forschungsjahren – er starb im Alter von 41 Jahren – auf die Geschichte der Zoologie ausgeübt hat, nicht nur an der Universität Jena.

Lunge oder Schwimmblase – das ist hier die Frage

Doch was genau hatte Haeckels Assistent da entdeckt? Um das darzustellen, hat der Tübinger Evolutionsbiologe Werneburg, der an der Universität Jena studiert hat, Querschnittabbildungen von Hai-Embryonen analysiert und die Erkenntnisse aus 100 Jahren Forschung, die nach dem Briefwechsel einsetzte, bestätigen können: „Haie und andere Fische atmen durch Kiemen, die im Inneren mit Kiemensäcken verbunden sind. Fünf Kiemenöffnungen auf jeder Seite sind heute bei Haien üblich, ihre Vorfahren hatten möglicherweise mehr, weshalb die heutigen Hai-Embryonen noch einige undifferenzierte Kiemensäcke als Anlagen aufweisen. Sie sind nur als kleine Fortsätze zu sehen, die sich nicht zu Kiemen umbilden, sondern nur nach verschiedenen Seiten hin aussacken“, sagt der Zoologe. „Ein solches Gebilde hat Miklucho-Maclay auch noch in ausgewachsenen Haien gefunden.“

In der Evolution haben sich aus den embryonalen Fortsätzen Lungen oder Schwimmblasen entwickelt, fassen die Forscher zusammen. Und die Beschäftigung mit dem über 150 Jahre alten Briefwechsel brachte sie auch zu neuen Überlegungen, warum sich nur eines der beiden Organe jeweils ausbildete und es nicht etwa Tiere gibt, die sowohl Schwimmblase als auch Lungen haben. Eventuell hatte das mit dem verfügbaren Platz in der Körperhöhle zu tun, der wiederum mit den Lebensbedingungen der Tiere verbunden ist. „Fische beispielsweise, die in offenen Gewässern schwimmen, sind im Querschnitt eher vertikal ausgerichtet, was im oberen Bereich ihres Rumpfes mehr Platz lässt, in dem sich eine unpaare Schwimmblase, die vorrangig eine hydrostatische Funktion übernimmt, ausdehnen kann“, sagt Ingmar Werneburg. „Fische dagegen, die häufiger am steinigen oder bewachsenen Grund von flachen Gewässern leben, bilden eher eine zweiflüglige Lunge aus. Die Flossen sind mehr in die Breite angelegt und schaffen so im Inneren Platz für die Ausbildung der seitlichen Atmungsorgane aus zwei der unteren embryonalen Aussackungen.“

Das vorliegende Ergebnis zeigt einmal mehr, wie wichtig moderne Museums- und Archivarbeit ist, auch bei der Untersuchung aktueller Fragen – beispielsweise im Rahmen der Biodiversitätsforschung. Ein neues Senckenberg-Institut, das derzeit rund um das Herbarium Haussknecht der Universität Jena entsteht, unterstreicht diesen Anspruch.


Diese Newsmeldung wurde mit Material der Friedrich-Schiller-Universität Jena via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.

Die News der letzten 7 Tage 6 Meldungen






warte

warte

warte

warte

warte

warte

warte

warte

warte

warte