Valproinsäure


Strukturformel
Strukturformel von Valproinsäure
Allgemeines
Freiname Valproinsäure
Andere Namen
  • 2-Propylpentansäure
  • Dipropylessigsäure
  • VPS
Summenformel C8H16O2
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 99-66-1
PubChem 3121
DrugBank DB00313
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Arzneistoffangaben
ATC-Code

N03AG01

Wirkstoffklasse

Antiepileptikum

Eigenschaften
Molare Masse 144,21 g·mol−1
Siedepunkt

222 °C[1]

pKS-Wert

4,6[1]

Löslichkeit

Wasser: 2000 mg·l−1 (20 °C)[1]

Sicherheitshinweise
Bitte die Befreiung von der Kennzeichnungspflicht für Arzneimittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Lebensmittel und Futtermittel beachten
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung [2]

Gefahr

H- und P-Sätze H: 302​‐​315​‐​319​‐​360D
P: 201​‐​302+352​‐​305+351+338​‐​313 [2]
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Valproinsäure (kurz VPS) ist eine nicht natürlich vorkommende, verzweigte Carbonsäure. Sie und ihre Salze - die Valproate - werden in der Medizin als Arzneistoffe aus der Gruppe der Antiepileptika eingesetzt.

Geschichte

Beverly Burton synthetisierte 1881 erstmalig die Valproinsäure. Zunächst wurde die Säure als Lösungsmittel für wasserunlösliche Substanzen eingesetzt. Bei der Untersuchung der antikonvulsiven Wirksamkeit verschiedener in Valproinsäure gelöster Khellinin-Derivate entdeckte Pierre Eymard 1962 zufällig, dass für die pharmakologische Wirkung nicht die gelösten Stoffe, sondern das Lösungsmittel Valproinsäure verantwortlich war.[3]

Synthese

Ausgangsstoffe für die Synthese von Valproinsäure sind Cyanessigsäureethylester und zwei Äquivalente 1-Brompropan. Diese reagieren unter Zugabe von Natriumethanolat über ein Enolat zum α,α-Dipropylcyanoessigsäureester. In basischer Umgebung bildet sich unter Esterspaltung und Decarboxylierung Dipropylacetonitril. Dieses lässt sich durch Hydrolyse in Valproinsäure überführen.[4]

Synthese von Valproinsäure

Pharmakologische Eigenschaften

Valproinsäure greift an verschiedenen Strukturen im menschlichen Organismus an. Für seine antiepileptische Wirkung wird u. a. die Blockade von erregenden Ionenkanälen (spannungsabhängige Natrium-Kanäle und Calcium-Kanäle) sowie eine Verstärkung der Wirkung des hemmenden Neurotransmitters GABA (durch Hemmung des Abbaus und Aktivierung der Synthese von GABA) angenommen.

Valproinsäure gehört auch zu den Histon-Deacetylase-Inhibitoren, was ihren Einsatz in der Krebstherapie denkbar macht. Sie wirkt epigenetisch, d. h., sie greift u. a. durch Acetylierungen in das epigenetische System ein. Dadurch werden Zellen und die Aktivität einzelner Gene verändert.

Valproinsäure wird gut vom Körper aufgenommen und kann peroral und intravenös verabreicht werden. Die Halbwertszeit liegt zwischen 12 und 16 Stunden. Bei gleichzeitiger Einnahme weiterer Antiepileptika wie Phenytoin oder Carbamazepin kann die Halbwertszeit auf vier bis neun Stunden sinken.

Einsatzgebiete

Valproinsäure wird eingesetzt:

  • zur Therapie generalisierter Formen der Epilepsie
  • zur Behandlung von Absencen, Aufwach-Grand-Mal und jugendlicher myoklonischer Epilepsie (nach Einstellung des Patienten durch den Arzt führt Valproinsäure empirisch bei über sechs von zehn Patienten zu dauerhafter Anfallsfreiheit)
  • zur Therapie manischer Zustände bei der bipolaren Störung
  • da Valproinsäure eine stimmungs- und impulsstabilisierende Wirkung besitzt, erfolgt auch der Einsatz bei therapierefraktären Depressionen sowie zur Vermeidung von aggressiven Impulsdurchbrüchen als Phasenprophylaktikum; hierzu ist jedoch eine individuelle fachärztliche Indikationsstellung notwendig[5]
  • Zusatzbehandlung bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis (insbesondere schizoaffektive Störungsbilder)
  • zur Anfallsverhütung im Alkohol- und Medikamentenentzug
  • als Mittel der ersten Wahl zur Migräneprophylaxe (jedoch ohne Zulassung für dieses Anwendungsgebiet[6])
  • Nach Empfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft kann Valproinsäure, ebenfalls ohne Zulassung, zur vorbeugenden Behandlung von Cluster-Kopfschmerz verwendet werden.[7]

Bei Kleinkindern darf Valproinsäure nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen, zum Beispiel wenn andere Antiepileptika nicht angewendet werden können. Für die Anwendung in der längerfristigen Phasenprophylaxe bei der bipolaren Störung liegen keine ausreichenden Nutzennachweise vor; die Zulassung wurde daher auf Empfehlung der Europäischen Arzneimittelagentur zurückgenommen.[8]

Am Institut für Humangenetik der Universitätsklinik Köln wurde beobachtet, dass Valproinsäure Expression des SMN2-Gens heraufregulieren kann; in klinischen Versuchen wird diese Eigenschaft im Zusammenhang mit der Therapie von spinaler Muskelatrophie erprobt.[9]

Wechselwirkungen

Als Enzyminhibitor verzögert Valproinsäure den Abbau bestimmter Wirkstoffe, so dass eine Dosisanpassung erforderlich sein kann. Betroffen sind zum Beispiel die Antiepileptika Primidon, sein Metabolit Phenobarbital und Lamotrigin. Umgekehrt können Phenobarbital, Phenytoin, Primidon und Carbamazepin durch ihre enzyminduzierende Wirkung die Valproinsäure-Ausscheidung beschleunigen.[10] Valproinsäure kann außerdem die Plasmaalbuminbindung von Phenytoin verringern.[10] Bei Kombinationstherapie mit Acetylsalicylsäure oder Antikoagulanzien ist mit vermehrten Blutungen zu rechnen. Alkoholkonsum sollte während der Therapie wegen der möglicherweise verstärkten hepatotoxischen Wirkung vermieden werden.

Nebenwirkungen

Vorteilhaft bei der Behandlung ist, dass Valproinsäure nicht sedierend wirkt und oft auch bei eventuell nicht erkannter idiopathischer generalisierter Epilepsie anschlägt.

Neben einigen harmloseren und vorübergehenden Nebenwirkungen kann es unter der Behandlung mit Valproinsäure zu inakzeptablen Nebenwirkungen kommen, die einen Abbruch der Behandlung erfordern:

Als häufigste Nebenwirkungen kommt es zu Schläfrigkeit, Zittern (Tremor), Ernährungsproblemen (geringer oder übermäßiger Appetit), Durchfall, übermäßiger Speichelbildung und vorübergehendem Haarausfall. Gelegentlich treten Hörstörungen, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen / Muskelhypotonie, Gangunsicherheit, übersteigerte Aktivität, Stupor, Ödembildung (Wassereinlagerungen) und Verwirrtheit auf und auch das Auftreten einer hirnorganischen Erkrankung (dosisunabhängig), seltener entwickelt sich eine chronische Erkrankung des Gehirns mit Störungen der kognitiven Leistungsfähigkeit (Enzephalopathie). Letzteres Phänomen ist insbesondere bei einer Langzeittherapie beobachtet worden und es geht dann oft mit vermehrten Krampfanfällen und schweren Allgemeinveränderungen im EEG einher. Bei Frauen kann es zum PCO-Syndrom kommen. Insbesondere am Behandlungsbeginn können Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Müdigkeit auftreten. Häufig kommt es zu einer Blutbildveränderung mit z. B. Verminderung der Blutplättchen (Thrombozytopenie), Enzyminhibition. Valproinsäure kann zudem die Blutgerinnung beeinflussen, was zu einer erhöhten Blutungsneigung führen kann. Seltener kommt es zu einer Nierenfunktionsstörung in Form eines Fanconi-Syndroms, einer Schädigung der Leber (teils mit tödlichem Ausgang) oder der Bauchspeicheldrüse (ebenfalls mit teils tödlichem Ausgang / gehäuft beim Vorliegen von Stoffwechselstörungen und bei Kombinationstherapie mit anderen Medikamenten). Bei einem Verdacht auf eine solche Störung ist das Medikament sofort abzusetzen. Dem klinischen Bild des Patienten ist hier stets mehr Bedeutung beizumessen als den Laborbefunden, da es insbesondere bei Leber- und Bauchspeicheldrüsenschäden erst akut zu einer Verschlechterung der Blutwerte kommt.

In einer retrospektiven Untersuchung haben N. Adab et al. vom Centre for Neurology and Neurosurgery in Liverpool herausgearbeitet, dass Kinder, bei denen während der Schwangerschaft die Mutter mit dem Antiepileptikum Valproinsäure behandelt wurde, einen niedrigeren verbalen Intelligenzquotienten (VIQ) als Nachkommen, die vorgeburtlich nicht mit diesem Medikament in Berührung kamen, haben.[11]

Zudem wird diskutiert, ob pränatale Valproinsäure-Gabe zu erhöhter lokaler kortikaler Hyperkonnektivität (und damit vielleicht Autismus) führen kann.[12]

Anwendung in der Schwangerschaft und Stillzeit

Es gibt klare Hinweise über ein Risiko für Missbildungen (z. B. Spina bifida) des menschlichen Fetus bei Verabreichung von Valproinsäure-Präparaten. Frauen im gebärfähigen Alter müssen vor Beginn einer entsprechenden Behandlung über dieses Risiko informiert werden.[10] Jedoch muss berücksichtigt werden, dass auch ein Krampfanfall in der Schwangerschaft sowohl für Mutter als auch Kind gefährlich werden können. Wie sich bei einer geplanten oder vorhandenen Schwangerschaft zu verhalten ist und ob die Medikamente gewechselt werden müssen, sollte bei einer ärztlichen Konsultation angesprochen und bestimmt werden. Neben den Missbildungen gibt es auch Hinweise auf eine dosisabhängige kognitive Einschränkungen durch Einnahme von Valproinsäure in der Schwangerschaft. Diese können erst mit einigen Lebensjahren beurteilt werden, in der Grundschule zeigen sich vor allem Probleme in den verbalen Fähigkeiten und im Gedächtnis.[13][14][15]

Bei weiterer Einnahme von Valproinsäure kann eine spezialisierte antenatale Überwachung durchgeführt werden, um mögliche Neuralrohrdefekte und andere Symptome für Missbildungen zu erkennen.[10]

Handelsnamen

Monopräparate:
Convulex (D, A, CH), Convulsofin (D), Depakine (CH, A), Ergenyl (D), Leptilan (D), Orfiril (D, CH), Valproat (D), zahlreiche Generika (D, CH)

Kombinationspräparate:
Depakine Chronosspere (A), Natriumvalproat (A)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 Eintrag zu Valproinsäure in der ChemIDplus-Datenbank der United States National Library of Medicine (NLM).
  2. 2,0 2,1 2,2 Datenblatt 2-Propylvaleriansäure bei Merck
  3. G. Krämer, J. Walden (Hrsg.): Valproinsäure. 2. Auflage, Springer, 2002, ISBN 3-540-66602-8, S. 3.
  4. Patent US5856569: Process for producing valproic acid. Angemeldet am 10. Januar 1997, veröffentlicht am 1. Mai 1999.
  5. Brigitte Vetter: Psychiatrie: Ein systematisches Lehrbuch. 7. Auflage, Stuttgart 2007, Schattauer Verlag, ISBN 978-3-7945-2566-9, S. 205–206.
  6. S. Evers, A. May, G. Fritsche, P. Kropp, C. Lampl, V. Limmroth, V. Malzacher, S. Sandor, A. Straube, H. C. Diener: Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne – Leitlinie der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. In: Nervenheilkunde. 27. Jahrgang, Nr. 10, 2008, S. 933–949 (dmkg.de [PDF]).
  7. A. May, S. Evers, A. Straube, V. Pfaffenrath, H. C. Diener: Therapie und Prophylaxe von Cluster-Kopfschmerzen und anderen trigemino-autonomen Kopfschmerzen. Überarbeitete Empfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. In: Schmerz. 19. Jahrgang, Nr. 3, Juni 2005, S. 225–41, doi:10.1007/s00482-005-0397-8, PMID 15887001 (dmkg.de [PDF]).
  8. Bekanntgabe der EMA vom 29. April 2011, Zugriff am 20. Mai 2011
  9. Institut für Humangenetik der Uniklinik Köln: Forschungsschwerpunkte der Arbeitsgruppe Wirth
  10. 10,0 10,1 10,2 10,3 Fachinformation des Arzneimittel-Kompendium der Schweiz: Convulex®; Stand der Informationen: September 2005.
  11. N. Adab, U. Kini, J. Vinten, J. Ayres, G. Baker, J. Clayton-Smith, H. Coyle, A. Fryer, J. Gorry, J. Gregg, G. Mawer, P. Nicolaides, L. Pickering, L. Tunnicliffe, D. W. Chadwick: The longer term outcome of children born to mothers with epilepsy. In: Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry. 2004, 75, S. 1575–1583, 1517–1518; doi:10.1136/jnnp.2003.029132.
  12. Tania Rinaldi, Gilad Silberberg und Henry Markram: Hyperconnectivity of Local Neocortical Microcircuitry Induced by Prenatal Exposure to Valproic Acid. In: Cerebral Cortex. 2008, 18 (4), S. 763–770; doi:10.1093/cercor/bhm117.
  13. K. J. Meador, G. A. Baker, N. Browning, M. J. Cohen, R. L. Bromley, J. Clayton-Smith, L. A. Kalayjian, A. Kanner, J. D. Liporace, P. B. Pennell, M. Privitera, D. W. Loring: Fetal antiepileptic drug exposure and cognitive outcomes at age 6 years (NEAD study): a prospective observational study. The Lancet Neurology. doi:10.1016/S1474-4422(12)70323-X
  14. FDA Safety Information
  15. K. J. Meador, G. A. Baker, N. Browning, J. Clayton-Smith, D. T. Combs-Cantrell, M. Cohen, L. A. Kalayjian, A. Kanner, J. D. Liporace, P. B. Pennell, M. Privitera, D. W. Loring: Cognitive Function at 3 Years of Age after Fetal Exposure to Antiepileptic Drugs. N Engl J Med 2009; 360: S. 1597–1605. DOI: 10.1056/NEJMoa0803531

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