Theory of Mind


Theory of Mind (ToM), auch native Theorie oder Mentalisierung, bezeichnet in der Psychologie und den anderen Kognitionswissenschaften die Fähigkeit, eine Annahme über Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzunehmen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten.[1]

Peter Fonagy, ein psychoanalytischer Forscher, definiert den Begriff der Mentalisierung folgendermaßen: Mentalisierung ist die „Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren“.[2] Für den Begriff gibt es bisher keine einheitliche deutsche Entsprechung.

A. M. Leslie sieht die Theory of Mind als einen Mechanismus der selektiven Aufmerksamkeit. Hierbei ist das Vorhandensein mentaler Konzepte die Grundlage, die Aufmerksamkeit auf die entsprechenden mentalen Zustände von Akteuren zu legen. Dadurch können diese Eigenschaften erschlossen werden.[3]

Entwicklungspsychologie der Theory of Mind

Im ersten Lebensjahr reagiert das Kind schon auf soziale Signale, also zum Beispiel auf das Lächeln der Mutter. Damit ist auch das „soziale Referenzieren“ verbunden, also das Orientieren an den Affekten einer Bezugsperson. Auch zeigt sich in dieser Phase bereits eine beginnende Empathiefähigkeit.

Dreijährige können schon recht kompetent auf die subjektive Verfassung („emotional state“) eines anderen Bezug nehmen. Sie können aber ihre eigenen Denkinhalte noch nicht als subjektiv erkennen.

Erst wenn die Meinung eines anderen von der eigenen unterschieden werden kann, und wenn Meinungen als falsch erkannt werden können, ist die ToM entwickelt. Dies ist ab dem vierten bis fünften Lebensjahr der Fall. Kinder können jetzt die Perspektive Anderer einnehmen und auf den Wissensstand eines Zuhörers Rücksicht nehmen. Mit Eintritt in die Phase der sozialen Perspektivübernahmen wird eine Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein möglich.[1]

Eine Grundlage der Entwicklung einer Theory of Mind ist die Fähigkeit, zwischen Belebtem und Unbelebtem unterscheiden zu können, da nur Belebtem interne Zustände zugeschrieben werden.[4] Hinzu kommt die Fähigkeit, zwischen mentaler und physikalischer Welt differenzieren zu können. Schon Dreijährige sind in der Lage, zwischen beiden Welten zu unterscheiden. So verstehen sie zum Beispiel, dass man einen realen Hund, nicht aber einen vorgestellten Hund, streicheln kann.[5] Des Weiteren verstehen Kinder im Alter von drei Jahren, dass Handlungsentscheidungen von Wünschen und Absichten der handelnden Person abhängen, und sie können Handlungen aus Informationen über die Wünsche und Absichten einer Person vorhersagen.

Ein weiterer Schritt für die Entwicklung einer ToM ist die Erkenntnis, dass Handlungen anderer Personen nicht nur von ihren Wünschen und Absichten, sondern auch von ihren Überzeugungen geleitet werden können. Diese Unterscheidung wird dann relevant, wenn eine andere Person eine falsche Auffassung von einem Sachverhalt hat. Solange eine Person eine „wahre“ Überzeugung hat, entsteht kein Problem, und man kann gemäß ihren Wünschen vorhersagen, wie sie handeln wird. Geht sie hingegen von einer nicht mit der Realität übereinstimmenden Überzeugung aus, so muss ihre falsche Vorstellung bei der Handlungsvorhersage berücksichtigt werden. Hierzu ein Beispiel von Rolf Oerter und Leo Montada:

Wenn Peter Eis essen will und glaubt, dass Eis im Kühlschrank ist und es ist tatsächlich Eis im Kühlschrank, dann können wir vorhersagen, was er tun wird, ohne überhaupt darüber nachzudenken, was er glaubt. Wenn er aber fälschlicherweise glaubt, es sei kein Eis da, obwohl tatsächlich noch Eis im Kühlschrank ist, dann müssen wir seinen falschen Glauben berücksichtigen, um zu richtigen Vorhersagen über sein Handeln zu kommen (z. B. um vorherzusagen, dass er Eis kaufen gehen wird).

Kinder lernen zwischen drei und fünf Jahren, die Überzeugungen einer Person mit einzubeziehen. Davor verstehen sie nicht, dass subjektive Überzeugungen von der Realität abweichen können, und berücksichtigen sie somit auch nicht bei ihrer Handlungsvorhersage.[6] Einer 2010 veröffentlichten Studie zufolge sollen auch wesentlich jüngere Kleinkinder bereits über eine Theory of Mind verfügen.[7] Untersuchungen in China, den USA, Kanada, Peru, Indien, Samoa und Thailand suggerieren, dass sich die Fähigkeit zum Bestehen der expliziten Version des False Belief Tests in allen Gesellschaften herausbildet, wenngleich das Alter zwischen vier und neun Jahren variiert (und Industrieländer sich am extremen unteren Ende befinden).[8]

Die Theory of Mind gilt außerdem als eine entscheidende Voraussetzung um Metakognitionen entwickeln zu können, also die Fähigkeit, kognitive Abläufe selbst zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen.[9]

Untersuchung

Eine gängige Aufgabe, um die Entwicklung der Theory of Mind zu untersuchen, ist die von Heinz Wimmer und Josef Perner 1983 entwickelte „False-Belief“-Aufgabe[10]: Dieser liegt zugrunde, dass Kinder erst ab einem bestimmten kognitiven Entwicklungsstand in der Lage sind zu erkennen, dass andere Menschen Überzeugungen haben können, von denen das Kind weiß, dass sie falsch sind.

Beispiel für eine False-Belief-Aufgabe: Vor dem Kind liegt eine Keksdose. Das Kind wird gefragt, was sich vermutlich darin befindet (zu erwartende Antwort: „Kekse“). Die Schachtel wird geöffnet - darin befinden sich jedoch keine Kekse, sondern etwas Unerwartetes (z. B. Buntstifte). Nun wird das Kind gefragt, was wohl eine andere Person in dieser Dose vermuten wird. Kinder, die noch keine Theory of Mind entwickelt haben, werden „Buntstifte“ antworten, weil sie noch nicht verstehen, dass andere Personen eine falsche Überzeugung über einen Sachverhalt haben können. ToM-fähige Kinder sagen hingegen „Kekse“. Interessanterweise haben die Kinder dabei nicht nur Schwierigkeiten, zu verstehen, dass andere Personen eine falsche Überzeugung haben können, sondern auch, dass sie selbst eine falsche Überzeugung hatten und vorher dachten, dass in der Schachtel Kekse sind.

Forschung

Der Fokus der ToM-Forschung liegt bislang auf epistemologischen Überzeugungen, weniger auf Repräsentationen motivationaler oder emotionaler Zustände. Neuerdings wird er mit der Bindungstheorie verknüpft, und der repräsentationale Gesichtspunkt fließt in die Forschung ein.

Erforscht wird ToM insbesondere im Rahmen der kognitiven Entwicklungspsychologie, wobei die Forschung zum frühkindlichen Autismus ein wichtiges Spezialgebiet darstellt. Bei autistischen Kindern treten bestimmte Defizite in der Entwicklung der ToM auf. So konnten zum Beispiel Baron-Cohen, Leslie & Frith (1985) zeigen, dass autistische Kinder im Vergleich zu durchschnittlich entwickelten Kindern bei einem False-Belief-Test nicht verstehen, dass eine Person eine falsche Überzeugung haben kann. Derartige Befunde haben zu der Theorie geführt, dass die sozialen Defizite, welche ein elementarer Bestandteil der Beeinträchtigung sind, durch die Unfähigkeit autistischer Kinder, sich in die Gedanken und Emotionen anderer Personen hineinzuversetzen, bedingt sind. Allerdings muss beachtet werden, dass in der Forschung der Zusammenhang zwischen Autismus und einem ToM-Defizit noch umstritten ist (siehe z. B. Kißgen & Schleiffer, 2002).

Empirische Untersuchungen legen außerdem einen Zusammenhang zwischen ToM und aggressivem Verhalten und ToM und sozialer Kompetenz nahe. Es gibt Theorien, nach denen Kinder deshalb aggressiv reagieren, weil sie nicht in der Lage sind, die Absichten einer anderen Person richtig einzuschätzen. So wird zum Beispiel ein versehentliches Anrempeln als Provokation gesehen (siehe auch: Störung des Sozialverhaltens). Es konnte ebenfalls ein Zusammenhang zwischen einer sicheren Bindung und der Fähigkeit zur Mentalisierung gefunden werden.[11]

Juristische Bedeutung

Juristische Bedeutung entfaltet die ToM für die Frage des Vorliegens einer Geschäftsunfähigkeit oder Testierunfähigkeit. Wer nicht in der Lage ist, fremde psychische Zustände im eigenen kognitiven System zu repräsentieren, ist gegenüber verdeckten Motiven seiner Mitmenschen blind. Dies kann zu einer abnorm erhöhten Fremdbeeinflussbarkeit mit der Konsequenz einer Geschäfts- und Testierunfähigkeit führen.

Siehe auch

Literatur

  • Peter Fonagy, György Gergely, Elliott L. Jurist, Mary Target: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-608-94384-6
  • Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. (5., vollständig überarbeitete Auflage). Beltz/PVU, Weinheim 2002, ISBN 3-621-27479-0
  • Baron-Cohen, S., Leslie, A. & Frith, U.: Does the autistic child have a „theory of mind“? In: Cognition, Band 21, 1985, S. 37–46.
  • Kißgen, R. & Schleiffer, R.: Zur Spezifitätshypothese eines Theory-of-Mind Defizits beim Frühkindlichen Autismus. In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Band 30, Nr. 1, 2002, S. 29–40.
  • Capage, L., & Watson, A. C.: Individual differences in theory of mind, aggressive behavior, and social skills in young children. In: Early Education & Development, Band 12, Nr. 4, 2001, S. 613–628.
  • Wellman, H. & Estes, D.: Early understanding of mental entities: A reexamination of childhood realism. In: Child Development, Band 57, 1986, S. 910–923.
  • Legerstee, M.: A review of the animate-inanimate distinction in infancy. Implications for models of social and cognitive knowing. In: Early Development and Parenting, Band 1, Nr. 2, 1992, S. 59–67.

zu Theory of Mind bei Tieren:

  • Tomasello M., Call J., Hare B.: Chimpanzees understand psychological states – the question is which ones and to what extent. In: Trends in Cognitive Sciences, Band 7, Nr. 4, 2003, S. 153–156

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 F. Resch et al.: Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters. Ein Lehrbuch. Belz, Weinheim 1999.
  2. P. Fonagy, G. Gergely, E. Jurist, M. Target: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Klett-Cotta, Stuttgart 2004
  3. A. M. Leslie (2000): ‚Theory of Mind‘ as a mechanism of selective attention. In: M. S. Gazzangia (Hrsg.): The New Cognitive Neurociences. The MIT Press, Cambridge, Massachusetts 2000, S. 1235–1247.
  4. M. Legerstee: A review of the animate-inanimate distinction in infancy. Implications for models of social and cognitive knowing. In: Early Development and Parenting. Band 1, 1992, S. 59–67
  5. Henry M. Wellman, David Estes: Early Understanding of Mental Entities: A Reexamination of Childhood Realism. In: Child Development. Band 57, 1986, S. 910–923
  6. Rolf Oerter und Leo Montada: Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. BeltzPVU, Weinheim 2001
  7. Ágnes Melinda Kovács et al.: The Social Sense: Susceptibility to Others’ Beliefs in Human Infants and Adults. In: Science. Band 330, Nr. 6012, 2010, S. 1830–1834, doi:10.1126/science.1190792
  8. Henrich, J., Heine, S. & Norenzayan, A. (2010): The Weirdest People in the World? Behavioral and Brain Sciences.
  9. M. Dornes: Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung. Fischer, Frankfurt a. M. 2006
  10. Wimmer, H., & Perner, J.: Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children's understanding of deception. In: Cognition. Band 13, 1983, S. 103–128.
  11. Horst Kächele & Anna Buchheim: Psychoanalytischer Befund und das AAI. Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Ulm: Studienmaterial

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