Poliovirus


Poliovirus
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Poliovirus (negativ gefärbte TEM-Aufnahme; Balken: 50 nm)

Systematik
Klassifikation: Viren
Ordnung: Picornavirales
Familie: Picornaviridae
Gattung: Enterovirus
Art: Poliovirus
Taxonomische Merkmale
Genom: (+)ssRNA linear
Baltimore: Gruppe 4
Symmetrie: ikosaedrisch
Hülle: keine
Wissenschaftlicher Name
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Das Poliovirus ist ein Virus aus der Familie der Picornaviridae, das beim Menschen die Kinderlähmung oder Poliomyelitis auslöst. Es handelt sich um ein sehr einfaches Virus ohne Hülle mit einem Genom aus einzelsträngiger plus-RNA. Es kommt ausschließlich beim Menschen vor; die Ausrottung des Poliovirus durch Impfung ist ein Ziel der Weltgesundheitsorganisation.

Entdeckung und Geschichte

Obwohl die Poliomyelitis eine seit langem bekannte Krankheit war, wurde erst nach Studien des schwedischen Arztes Ivar Wickman zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein anerkannt, dass es sich um eine durch Kontakt übertragene Infektionskrankheit handelt. Als Entdecker des Poliovirus gelten aber Karl Landsteiner und Erwin Popper; 1908 gelang es ihnen, durch Injektion eines bakteriologisch sterilen Rückenmarkextraktes aus einem an Poliomyelitis verstorbenen Jungen den Erreger auf zwei Affen zu übertragen; beide Tiere erkrankten.[1]

Charles Armstrong gelang es in den 1930er Jahren, das Virus auf Baumwollratten zu übertragen. John F. Enders, Frederick Chapman Robbins und Thomas Huckle Weller konnten 1949 das Virus in Zellkulturen vermehren; dafür erhielten sie 1954 gemeinsam den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. 1955 wurde ein von Jonas Salk entwickelter, inaktivierter Polioimpfstoff zugelassen, wenige Jahre später gefolgt von einem oralen Polioimpfstoff von Albert Sabin.

Virusaufbau

Morphologie

Das annähernd runde Viruspartikel hat einen Durchmesser von 28 bis 30 Nanometer. 1985 gelang es, mittels Kristallstrukturanalyse die dreidimensionale Struktur eines kompletten Polioviruspartikels aufzulösen.[2] Jedes Virion enthält eine Kopie des einzelsträngigen RNA-Genoms, das von einem ikosaedrischen Kapsid umhüllt wird. Das Kapsid setzt sich aus je 60 Kopien der vier Kapsidproteine VP1, VP2, VP3 und VP4 zusammen. Das Virus hat keine Hülle.

Aufgrund dieser Struktur ist das Poliovirus ein umweltstabiles Virus, das gegen etliche Desinfektionsmittel wie 70-prozentigem Ethanol, Isopropanol und quartären Ammoniumverbindungen resistent ist. Auch durch viele Detergenzien oder durch Säuren, beispielsweise Magensäure, wird das Virus kaum inaktiviert.

Genom und Virusproteine

Die genomische Struktur des Poliovirus vom Typ 1[3].

Das virale Genom wurde erstmals 1981 kloniert und sequenziert. Die beim Typ 1 7440 Nukleotide lange RNA, an deren 5'-Ende ein virales Protein (VPg) gebunden ist, besteht aus einem langen 5'-untranslatierten Bereich (5'-NTR), der von einem einzigen offenen Leserahmen gefolgt wird, welcher für ein Polyprotein von 220 kDa kodiert, sowie einem kurzen 3'-untranslatierten Bereich (3'-NTR) mit einem Poly(A)-Schwanz. Im 5'-untranslatierten Bereich enthält die RNA eine interne ribosomale Eintrittsstelle (IRES), die für die Translation der RNA in der Wirtszelle entscheidend ist. Mutationen in der IRES sind eine molekulare Ursache für die Attenuierung der Polioviren, die für orale Polioimpfstoffe benutzt werden.

Das 220 kDa-Polyprotein wird durch virale Peptidasen in drei Proteine, P1, P2 und P3 zerteilt; das P1-Protein wird weiter aufgespalten in die strukturellen Proteine VP1–VP4, aus denen das Kapsid der neuen Viruspartikel zusammengesetzt wird. Aus den Proteinen P2 und P3 gehen Nichtstrukturproteine hervor, die eine Funktionen bei der Vermehrung des Virus haben. Die Proteine 2Apro und 3Cpro sowie 3CDpro sind Peptidasen, die das virale Polyprotein zerteilen, während die Proteine 2BC, 2C und 3AB einen Membrankomplex bilden, der für die Virusreplikation benötigt wird. 3BVPg bindet an das 5'-Ende der viralen RNA und ist für die Initiation der Replikation der RNA wichtig, 3Dpol schließlich ist eine RNA-abhängige RNA-Polymerase, die die virale RNA synthetisiert.[3]

Replikation

Das Poliovirus vermehrt sich im Zytoplasma der Wirtszelle. Um in die Zelle eindringen zu können, benötigt das Virus einen spezifischen Rezeptor, das CD155-Protein. Dann kann das Virus seine RNA in die Zelle übertragen, wo diese unmittelbar zum Polyprotein translatiert wird. Das Polyprotein kann sich selbst proteolytisch in einzelne strukturelle und funktionelle Proteine zerlegen. Die RNA wird nicht nur translatiert sondern auch repliziert. Letzteres geschieht durch die virale RNA-abhängige RNA-Polymerase 3Dpol, die die ursprüngliche plus-RNA in eine minus-RNA umschreibt und von dieser sogleich wieder neue plus-RNA erzeugt. Die RNA wird schließlich mit den Strukturproteinen zu einem neuen Virion verpackt; schließlich stirbt die Wirtszelle und die Viren werden freigesetzt.

Systematik

Das Poliovirus gehört zur Virusgattung Enterovirus; diese ist Teil der Familie der Picornaviridae. Beim Poliovirus werden drei Serotypen unterschieden.

  • Familie Picornaviridae
    • Gattung Enterovirus
      • Spezies Poliovirus
        • Serotyp 1 (Typ „Mahoney“ oder „Brunhilde“): dieser Typ kommt am häufigsten vor und kann auch eine schwere Erkrankung verursachen.
        • Serotyp 2 (Typ „Lansing“): dieser Typ verursacht eher leichte Verläufe.
        • Serotyp 3 (Typ „Leon“): dieser Typ kommt eher selten vor, verursacht aber in der Regel einen ernsten Verlauf.

Die drei Serotypen unterscheiden sich strukturell vor allem in den Kapsidproteinen. Vergleiche der vollständigen Genomsequenzen der Polioviren und des humanen Enterovirus C (HEV-C) zeigten, dass die Polioviren und die HEV-C-Viren in der Genomstruktur zueinander sehr ähnlich sind. Außerhalb der Kapsidregion sind die Polioviren zu den HEV-C-Viren so ähnlich wie untereinander. Deshalb wurde vorgeschlagen, die Spezies Poliovirus aufzugeben und die drei Serotypen in die Spezies Human Enterovirus C einzuordnen.[4] Darüber ist aber noch nicht entschieden worden.

Verbreitung, Übertragung und Spezifität

Verbreitung

Siehe auch Abschnitt Epidemiologie im Artikel Poliomyelitis

Ursprünglich war das Virus weltweit verbreitet; in den Tropen traten Epidemien ganzjährig auf, in gemäßigten Breiten vor allem im Sommer. In Endemiegebieten ist das Virus unter anderem auch in Abwässern nachweisbar; in der Umwelt soll es mehrere Wochen vermehrungsfähig bleiben. Der einzige natürliche Wirt und damit das einzige bekannte Reservoir ist der Mensch. Daher scheint eine Ausrottung durch Impfung möglich; beim Poliovirus vom Typ 2 ist das bereits gelungen. Im Jahr 2007 gab es weltweit 1310 Krankheitsfälle durch wilde Polioviren, im Jahr 2008 ist das Virus nur noch in Nigeria, Indien, Pakistan und Afghanistan endemisch.[5][6]

Übertragung und Spezifität

Das Virus wird durch Schmierinfektion (fäkal-oral) und auch über Gegenstände übertragen. Der Tropismus des Poliovirus beschränkt sich auf den Menschen und manche andere Primaten. Verschiedene Affen können experimentell infiziert werden, indem das Virus direkt in das Rückenmark oder das Gehirn injiziert wird. Lediglich Schimpansen und Altweltaffen können auch wie der Mensch auf oralem Wege infiziert werden. Da das Virus für die Infektion einen spezifischen Rezeptor, das CD155-Protein, auf den Wirtszellen benötigt, hängt die Infektion eines Organismus wesentlich davon ab, ob das Virus an den Rezeptor im Wirt binden kann. Das Poliovirus bindet an CD155 vom Menschen, vom Schimpansen und von Altweltaffen, aber nur teilweise auch an CD155 von Neuweltaffen.[7] Nach Bindung an den CD155-Rezeptor wird das Virus in die Zelle aufgenommen, wo es sich vermehren kann. Die Vermehrungsmechanismen innerhalb der Zelle sind weniger wirtsspezifisch als der Aufnahmemechanismus. Der CD155-Rezeptor befindet sich auf der Zelloberfläche von Monozyten, Makrophagen, T-Lymphozyten und Nervenzellen. Lymphatische Gewebe wie die Peyer-Plaques im Darm sind der Ort der ersten Virusvermehrung.

Erkrankung, Nachweis und Impfstoffe

Erkrankung

Siehe Hauptartikel: Poliomyelitis

Nachdem das Virus über den Mund aufgenommen wurde und sich im Nasopharynx und im Verdauungstrakt vermehrt hat, kommt es zu einer Virämie, bei der das Virus über die Blutbahn verteilt wird. In den meisten Fällen verläuft dies ohne Symptome; lediglich bei 4 bis 8 % der Infizierten kommt es zu grippeähnlichen Beschwerden.

Nur in seltenen Fällen, bei zirka 1 % der Infektionen, befallen die Viren auch Nervenzellen, und zwar vorzugsweise die für die Muskulatur wichtigen Vorderhornzellen im Rückenmark. Dies führt dann zum Krankheitsbild der Kinderlähmung.

Nachweis

Der Nachweis des Virus kann aus Stuhlproben, Rachenabstrichen und gegebenenfalls aus Liquor erfolgen. Beim klassischen virologischen Nachweis wird das aufbereitete Material auf Zellkulturen inkubiert und die Identität des Virus mit einem Neutralisationstest mit spezifischen Antisera bestimmt. Eine Isolierung des Virus aus Stuhlproben soll in den ersten 14 Tagen der Erkrankung zu 80 % erfolgreich sein.[8] Diese Methodik ist aber aufwendig. Deshalb wird heute oft die Reverse Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion eingesetzt, mit der direkt virale RNA in klinischem Material nachgewiesen werden kann. Teilweise werden sogar Teile des Virusgenoms sequenziert, um über Sequenzvergleiche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Patienten herzustellen und den Infektionsweg nachzuvollziehen zu können. Auch ein Nachweis von Antikörpern gegen das Virus in Serum des Patienten kann durchgeführt werden.

Ein Nachweis des Poliovirus ist nach dem deutschen Infektionsschutzgesetz meldepflichtig.

Impfstoffe

Siehe Hauptartikel: Polioimpfstoff

Es gibt zwei verschiedene Polioimpfstoffe. Die inaktivierte Poliovakzine (IPV) nach Jonas E. Salk ist ein Totimpfstoff, der intramuskulär injiziert wird. Der Impfstoff enthält auf Zellkulturen gezüchtete, mit Formaldehyd inaktivierte Viruspartikel der drei Typen. Dieser Impfstoff bietet guten Schutz gegen die Erkrankung; der entscheidende Vorteil dieses Impfstoffes ist, dass eine Impf-Poliomyelitis ausgeschlossen ist. Der inaktivierte Polioimpfstoff wurde 1955 in den USA zugelassen und führte dort zu einem rapiden Rückgang der Erkrankungen.

Die orale Poliovakzine (OPV) nach Albert Sabin zur Schluckimpfung ist ein Lebendimpfstoff und besteht aus einer Mischung aus den drei Typen so genannter attenuierter Viren, die zwar noch vermehrungsfähig sind, aber keine Krankheit mehr erregen. Der Vorteil dieses Impfstoffes ist neben der einfachen Anwendung, dass er auch eine Immunität im Magen-Darm-Trakt erzeugt, die nicht nur die Erkrankung, sondern auch eine Übertragung des Virus verhindert. In Deutschland wird dieser Impfstoff nicht mehr angewendet, da eine Impf-Poliomyelitis nicht vollkommen ausgeschlossen werden kann. Da das Poliovirus in Deutschland ausgerottet ist, wäre dies ein nicht akzeptables Risiko.

Einzelnachweise

  1. Hans Eggers: Milestones in early Poliomyelitis research (1840 to 1949). In: J. Virol., Bd. 73, S.4533-4535, 1999, PMID 10233910
  2. Hogle JM, Chow M, Filman DJ. Three-dimensional structure of poliovirus at 2.9 A resolution. In: Science. 1985 Sep 27;229(4720):1358-65. PMID 2994218
  3. 3,0 3,1 De Jesus NH.: Epidemics to eradication: the modern history of poliomyelitis. In: Virol J. 2007 Jul 10;4:70. PMID 17623069
  4. Brown B, Oberste MS, Maher K, Pallansch MA. Complete genomic sequencing shows that polioviruses and members of human enterovirus species C are closely related in the noncapsid coding region. In: J Virol. 2003 Aug;77(16):8973-84. PMID 12885914
  5. Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Progress toward interruption of wild poliovirus transmission--worldwide, January 2007-April 2008. In: MMWR Morb Mortal Wkly Rep. 2008 May 9;57(18):489-94. PMID 18463607
  6. Aktuelle Verbreitungskarte für das Poliovirus (polioerradication.org)
  7. Khan S, Peng X, Yin J, Zhang P, Wimmer E. Characterization of the New World monkey homologues of human poliovirus receptor CD155. In: J Virol. 2008 Jul;82(14):7167-79. PMID 18480448
  8. Merkblatt Poliomyelitis des Robert-Koch-Instituts

Literatur

  • David M. Knipe, Peter M. Howley (Red.): Fields’ Virology. 5. Auflage. 2 Bände, Philadelphia 2007, S. 796–884; ISBN 0-7817-6060-7
  • Anonymus: Globale Polioeradikation - zwischen Bangen und Zuversicht. Hygiene und Medizin 29(11), S. 400 - 401 (2004), ISSN 0172-3790

Weblinks

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