Hartnup-Krankheit


Klassifikation nach ICD-10
E72.0 Störungen des Aminosäuretransportes
ICD-10 online (WHO-Version 2019)
Klassifikation
Hartnup-Krankheit
L-Tryptophan - L-Tryptophan.svg
Tryptophan

Die Hartnup-Krankheit (Hartnup-Syndrom) ist eine angeborene Störung des Transportes der meisten Aminosäuren durch die Körperzellen. Im Organismus ist dabei der Mangel der für den Menschen essentiellen Aminosäure Tryptophan am stärksten ausgeprägt.

Epidemiologie

Die Krankheit wird autosomal-rezessiv vererbt. Mehrere Autoren, z. B. Tahmoush, Kimmig, berichten aber auch über leichtere Erkrankungen wie Lichtdermatosen und Aminosäureurie bei nahen Verwandten mit wahrscheinlich nur einem defekten Gen. Die Erstmanifestation ist im Kindesalter zwischen drei und neun Jahren. Sie kann auch früher [1] oder erst im Erwachsenen auftreten.[2][3]

Die Hartnup-Krankheit ist selten und tritt mit einer Prävalenz von lediglich 1:24.000 auf. Bei weitem nicht alle Träger des entsprechenden Gendefekts entwickeln diese Krankheit. Auffallend ist der extreme Unterschied im Verlauf bei Personen, die durch Urin-Reihentests, und jenen, die erst durch einen akuten Ausbruch der Erkrankung gefunden wurden. Bei Ersteren wurden nur leichtere Erkrankungen beobachtet, viele erkrankten gar nicht. Bei Letzteren ist die Sterblichkeitsrate hoch.[4][5] Bisher wurden 21 Mutationen von SLC6A19 in Chromosom 5 Genlocus p15.33 identifiziert, die den Transport unterschiedlich beeinträchtigen. Die meisten Betroffenen haben zwei unterschiedliche Mutationen. Das Allel D173N kommt bei 42 % der durch Urin-Screening bei Neugeborenen in Amerika, Australien und Kanada gefundenen Genträger vor.[6] Gemeinsamkeiten der D173N-Träger legen einen gemeinsamen Vorfahren vor mehr als tausend Jahren nahe. Die Autoren postulieren, dass der lange Fortbestand dieses Allels auf seiner Unfähigkeit den Transport vollständig zu deaktivieren beruht. Bei manchen Mutationen wie den Allelen D173N und P265L ist die Anzahl der Transportkanäle abhängig von ACE2 im Darm bzw Collectrin in den Nieren.[7]

Naturgemäß ist es bei der ersten Gruppe sehr viel einfacher Daten über eine relativ große Anzahl von Betroffenen zu erhalten, als Daten über die „wilden“ Fälle zu sammeln. Diese Daten beziehen sich jedoch auf Menschen, bei denen lebenslänglich ein erhöhter Bedarf an Vitaminen und Proteinen berücksichtigt wurde, was neben dem D173N-Allel eine mögliche Erklärung für die milden Verläufe bietet. Dies führte auch weltweit in Fachbüchern und Veröffentlichungen zu einer Darstellung der Hartnup-Krankheit als „benign“.

Pathogenese

Es handelt sich um eine Störung des Transportes von Aminosäuren durch die Membranen der Körperzellen. Dafür verantwortlich ist der Mangel eines bestimmten kanalartigen Membranproteins (neutraler Aminosäuretransporter), welches für die Durchschleusung von aromatischen und neutralen Aminosäuren durch die Zellen zuständig ist. Der Defekt ist allgegenwärtig (ubiquitär), tritt aber in Geweben die verstärkt für die Resorption (Aufnahme) von Aminosäuren konzipiert sind, deutlicher in Erscheinung. Die Störung betrifft hauptsächlich den oberen Dünndarmabschnitt (Jejunum) und die proximalen Tubuluszellen der Niere, die den proximalen Tubulus bilden.

Durch das Unvermögen der Niere, bestimmte Aminosäuren im Blut zu halten (verminderte Rückresorption), sammeln sich diese im Harn und gehen dem Körper folglich verloren. Im Urin finden sich Alanin, Serin, Threonin, Valin, Leucin, Isoleucin, Phenylalanin, Tyrosin, Tryptophan, Glutaminsäure, Asparagin und Histidin. Im selben Ausmaß, in dem der Verlust dieser Aminosäuren über den Harn geschieht, findet sich eine Resorptionsstörung derselben Substanzen im Dünndarm. Ein Mangel dieser Stoffe im Körper ist die logische Konsequenz. Der größte Teil der für den Lebenserhalt notwendigen essentiellen Aminosäuren wird durch Aminosäure-Recycling im Darm gewonnen. Jede Sekunde stirbt eine große Anzahl von Zellen, diese werden zerlegt und die Bestandteile in den Darm ausgeschieden. Bei der Hartnup-Krankheit ist dies jedoch eine Einbahnstraße, wodurch der Bedarf einer äußeren Zufuhr der von dem Transportdefekt betroffenen Aminosäuren stark ansteigt bis zu einem Ausmaß, das durch bloße Nahrungsaufnahme nicht befriedigt werden kann. Auch normalerweise für Menschen nicht essentielle Aminosäuren können dadurch essentiell werden.

Der menschliche Stoffwechsel kann fehlende Substanzen oftmals selbst herstellen und damit das Defizit auch weitgehend kompensieren. Problematisch erweist sich jedoch der Mangel an Tryptophan, einer essentiellen Aminosäure. Für dieses Molekül besteht keine Möglichkeit zur Synthese im menschlichen Stoffwechsel gibt.

Ein Mangel an Tryptophan kann begrenzt durch eine Substitution mit dessen Folgeprodukten Niacin und Nicotinamid beseitigt werden. Individuell unterschiedlich werden 1/80 bis 1/40 des Tryptophans in Nicotinamid umgewandelt. Durch eine erhöhte Zufuhr von Nicotinamid muss der Körper weniger Tryptophan umwandeln, wodurch mehr für andere Zwecke zur Verfügung steht.

Nicht resorbiertes Tryptophan wird im Darm durch Bakterien zu diversen Indolverbindungen metabolisiert. Diese werden im Gegensatz zum Tryptophan sehr wohl vom Darm resorbiert. Außerdem können sie die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Viele zentralnervöse Symptome werden darauf zurückgeführt.

Symptomatik

Das Krankheitsbild gleicht im Wesentlichen dem der Pellagra (Niacinmangel). Auslösende Faktoren für einen Krankheitsschub sind Fieber oder einige fiebersenkende Medikamente, starke Sonnenexposition, Stress und bestimmte Medikamente (Sulfonamide), Inhibitoren des Vitamin B Komplexes insbesondere von (Niacin), (Riboflavin) und (Pyridoxin). [8] Pellagra kann auch zu Störungen im Porphyrinstoffwechsel führen. [9] Porphyrieauslösende Medikamente können diese Störungen verstärken und schließlich einen Hartnup-Schub auslösen.

  • Haut: Kennzeichnend für dieses Syndrom sind Hautläsionen in Form von erythematösen Ekzemen.
  • Darm: Es kommt zu wiederkehrenden Durchfällen (Diarrhö).
  • ZNS: Intermittierend finden sich neurologische oder psychiatrische Symptome. Es kann zu Störung der Bewegungskoordination (Ataxie), (Parkinsonoid), Lähmungen (Paresen) oder Stimmungschwankungen kommen. Selten werden auch demenzähnliche Zustände, Schielen (Strabismus) und Krampfanfälle (Konvulsionen) beschrieben.

Diagnose

Jeder Patient, der an pellagraartigen Symptomen erkrankt und bei dem der für diese Krankheit typische ernährungsbedingte Niacinmangel nicht nachvollziehbar ist, sollte auf das Vorhandensein des Gendefekts für die Hartnup-Krankheit untersucht werden. Bei der relativ hohen Zahl an gefundenen Mutationen ist das aber sehr schwierig. In einer Studie[10] wurden nicht alle ursächlichen Allele in allen betroffenen Personen identifiziert, was die Möglichkeit erhöht, dass neben SLC6A19 andere Gene zur Hartnup-Krankheit beitragen könnten.

Die Diagnose der Hartnup-Krankheit kann meist mittels Urinanalyse durchgeführt werden. Man findet häufig eine neutrale Aminoazidurie (Vorhandensein von Aminosäuren im Harn). Durch eine nicht vorhandene Aminoazidurie kann die Hartnup-Krankheit jedoch nicht ausgeschlossen werden, wenn von einer ausreichenden Ernährung ausgegangen werden kann.[11][12][13]

Durch den Transportdefekt kann auch bei normalen Blutwerten ein Mangel in den Zellen bestehen. Paradoxerweise können durch die eingeschränkte Aufnahmefähigkeit der Zellen Blutwerte der betroffenen Aminosäuren sogar erhöht sein, wenn auch bei weitem nicht so stark wie z. B. bei Hypertryptophanämie.

Bei fehlender Aminoazidurie und scheinbar normalen Blutwerten kann ein einfacher Test auf Porphyrogene (Indolylacrylsäure und nahe Verwandte, Absorptionsmaximum von 509 µm) einen weiteren Hinweis geben.[14] Dabei wird in den Morgenurin etwas Salzsäure geben (pH = 2 bis 2,5) und die Probe erwärmt. Vorhandene Porphyrogene bilden dann einen roten Farbstoff, durch den sich der Urin nahezu schwarz verfärben kann. Dieser Test kann auch bei Porphyrie und einigen anderen Erkrankungen, sowie nach Einnahme von Phenothiazinderivaten, positiv sein.

Referenzbereich Tryptophan im Plasma oder Serum:[15]

  • Säuglinge: 25 µmol/l bis 69 µmol/l (0,5 mg/dl bis 1,3 mg/dl)
  • Kinder: 32 µmol/l bis 79 µmol/l (0,6 mg/dl bis 1,6 mg/dl)
  • Erwachsene: 34 µmol/l bis 90 µmol/l (0,7 mg/dl bis 1,7 mg/dl)

Von einigen Laboren werden geradezu absurd niedrige untere Grenzwerte angegeben, bis hinunter zu 10 µmol/l. Sollte der Arzt zuerst den richtigen Verdacht gehabt haben, können solche Werte ein Menschenleben kosten.

Therapie

Die Behandlung besteht in der Verabreichung der fehlenden Substanzen (Substitutionstherapie). Eine tägliche Nahrungsergänzung von 50 bis 250 mg Nicotinamid verbessert die Situation bedeutend.

Außerdem empfiehlt sich eine proteinreiche Diät mit hohem Anteil an Tryptophan. Dieser findet sich hauptsächlich in Milch und Milchprodukten. Ferner findet sich relativ viel Tryptophan in Geflügel, Rindfleisch, Nüssen und Kartoffeln.

In schweren Fällen ist es nicht möglich, den Blutspiegel, der von dem Transportdefekt betroffenen Aminosäuren, mittels einer mit Proteinen angereicherten Diät signifikant zu erhöhen. Der Mangel muss dann durch Umgehung des Transportdefekts mittels intravenöser Substitution oder oraler Substitution mit chemisch abgewandelten Aminosäuren beseitigt werden.[16] Geschieht dies nicht führt der Mangel zum Tod.

Die Photodermatosen sind mit einer harnstoffhaltigen (10 bis 15 %) Salbe gut behandelbar, auch bei Blasenbildung.

Historisches

Diese Krankheit wurde erstmals 1956 in London bei Kindern der Familie Hartnup beobachtet. Angeblich litt auch die julisch-claudische Imperatorenfamilie von Julius Caesar bis hin zu Kaiser Nero an dieser Krankheit.

Literatur

  • Dennis L. Kasper (Hrsg.), Eugene Braunwald (Hrsg.), Anthony Fauci: Harrison’s Principles of Internal Medicine. 16th Edition Volume II ISBN 0-07-139142-8

Einzelnachweise

  1. K. Schmidtke et al: Hartnup syndrome, progressive encephalopathy and allo-albuminaemia. A clinico-pathological case study. In: Eur J Pediatr. 1992 Dec;151(12):899-903.
  2. E. Mori et al.: Adult-onset Hartnup disease presenting with neuropsychiatric symptoms but without skin lesions. In: Rinsho Shinkeigaku. 1989 Jun;29(6):687-92.
  3. Oakley A, Wallace J.: Hartnup disease presenting in an adult. In: Clin Exp Dermatol. 1994 Sep;19(5):407-8.
  4. KH Daute et al.: The Hartnup syndrome. Report on a fatal course of the disease. In: Z Kinderheilkd. 1966 Jan 17;95(2):103-13.
  5. K. Schmidtke et al: Hartnup syndrome, progressive encephalopathy and allo-albuminaemia. A clinico-pathological case study. In: Eur J Pediatr. 1992 Dec;151(12):899-903.
  6. Azmanov DN, Rodgers H, Auray-Blais C, Giguère R, Bailey C, Bröer S, Rasko JE, Cavanaugh JA: Persistence of the common Hartnup disease D173N allele in populations of European origin. In: Ann Hum Genet. 2007 Nov;71(Pt 6):755-61. Epub 2007 Jun 7.
  7. Camargo SM, Singer D, Makrides V, Huggel K, Pos KM, Wagner CA, Kuba K, Danilczyk U, Skovby F, Kleta R, Penninger JM, Verrey F: Tissue-Specific Amino Acid Transporter Partners ACE2 and Collectrin Differentially Interact With Hartnup Mutations. In: Gastroenterology. 2008 Oct 29.
  8. Vitamin-Lexikon: Bässler, Grühn, Loew, Pietrzik
  9. Pschyrembel® Klinisches Wörterbuch Ausgabe 253
  10. Seow et al., Nature Genetics 2004;36:1003-1007
  11. Tahmoush AJ, Alpers DH, Feigin RD, Armbrustmacher V, Prensky AL: Hartnup disease. Clinical, pathological, and biochemical observations. In:Arch Neurol. 1976 Dec;33(12):797-807
  12. Freundlich E, Statter M, Yatziv S: Familial pellagra-like skin rash with neurological manifestations. In: Arch Dis Child. 1981 Feb;56(2):146-8
  13. Da Gloria ER, Assunção JG, Costa MA: Clinical picture of Hartnup disease. Without urine amino acids or any other identified metabolic disorder (a new entity). In: Med Cutan Ibero Lat Am. 1990;18(4):227-31 (Artikel auf Portugiesisch)
  14. J. Kimmig Hamburg: Stoffwechselstörungen bei polymorphen Lichtdermatosen und neuere Untersuchungsergebnisse im Zusammenhang mit dem Hartnup-Syndrom
  15. Lehrbuch der Klinischen Chemie und Pathobiochemie, Schattauer 3. Auflage
  16. A. J. Jonas, I. J. Butler: Circumvention of defective neutral amino acid transport in Hartnup disease using tryptophan ethyl ester. In: J Clin Invest. Band 84, Nummer 1, 1989, S. 200–204. PMC 303970 (freier Volltext)

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