Apallisches Syndrom


Klassifikation nach ICD-10
G93.80 Apallisches Syndrom
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Das apallische Syndrom ist ein Krankheitsbild in der Neurologie, das durch schwerste Schädigung des Gehirns hervorgerufen wird. Dabei kommt es zu einem funktionellen Ausfall der gesamten Großhirnfunktion oder größerer Teile, während Funktionen von Zwischenhirn, Hirnstamm und Rückenmark erhalten bleiben. Dadurch wirken die Betroffenen wach, haben aber aller Wahrscheinlichkeit nach kein Bewusstsein und nur sehr begrenzte Möglichkeiten der Kommunikation (z. B. durch Konzepte wie die Basale Stimulation) mit ihrer Umwelt. In Deutschland wird von wenigstens 10.000 Betroffenen ausgegangen.

Weitgehende Synonyme sind Wachkoma (lat. Coma vigile) und Lucid Stupor.

Definition

Durch die Multi-Society-Task-Force on PVS wurden 1994 diagnostische Kriterien für das Wachkoma definiert:

Entwicklung des Begriffes

Der Begriff apallisches Syndrom wurde erstmals 1940 vom deutschen Psychiater Ernst Kretschmer verwendet. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort für Mantel, also „pallium“ ab. Mit Mantel ist die Hirnrinde gemeint. In Verbindung mit dem Präfix „a“ (Alpha privativum) beschreibt der Begriff appallisches Syndrom einen Zustand ohne Hirnmantel.[1]

Ernst Kretschmer beschrieb 1940 einen Patienten mit apallischem Syndrom folgendermaßen: „Der Patient liegt wach da mit offenen Augen. Der Blick starrt gerade oder gleitet ohne Fixationspunkt verständnislos hin und her. Auch der Versuch, die Aufmerksamkeit hinzulenken, gelingt nicht oder höchstens spurweise, reflektorische Flucht- und Abwehrbewegungen können fehlen …“ Dem ist auch heute nicht viel hinzuzufügen. Ansprechen, Anfassen, Vorhalten von Gegenständen erweckt keinen erkennbaren Widerhall. Jennet und Plum führten 1972 den heute international akzeptierten Begriff des persistent vegetative state ein. Durch die Multi-Society-Task-Force on PVS wurde 1994 die Unterscheidung zwischen „persistent vegetative state“ (andauernder vegetativer Zustand) für einen zumindest teilweise rückbildungsfähigen Zustand und „permanent vegetative state“ (ständiger vegetativer Zustand) für einen dauerhaften Schaden eingeführt.

Der Begriff „vegetative state“ bezieht sich darauf, dass das autonome (vegetative) Nervensystem die basalen Lebensfunktionen wie Atmung, Kreislauf, Verdauung etc. aufrechterhält.

Ursachen

Ein apallisches Syndrom ist immer Folge einer schweren Schädigung des Gehirns. Diese wird am häufigsten durch ein Schädel-Hirn-Trauma oder Sauerstoffmangel (Hypoxie) als Folge eines Kreislaufstillstandes hervorgerufen. Weiterhin können Schlaganfall, Meningitis/Enzephalitis, Hirntumoren oder neurodegenerative Erkrankungen (z. B. Parkinson-Syndrome) zu einem apallischen Syndrom führen. Auch massive anhaltende Unterzuckerung, z. B. nach einem Suizidversuch mit Insulin, kann das Syndrom verursachen.

Letztlich kommt es zu einer überwiegenden Schädigung des Großhirns, wobei hier neben dem Untergang der Hirnrinde auch z. B. eine beidseitige Schädigung des Thalamus oder der Formatio reticularis zu einem apallischen Syndrom führen können. Zumeist liegen jedoch Mischformen mit Schädigung mehrerer wichtiger Hirnregionen vor.

Symptome

Das apallische Syndrom ist meist Folge einer akuten schweren Erkrankung (Ausnahme: neurodegenerative Erkrankungen). Die Patienten werden daher überwiegend zunächst auf einer Intensivstation behandelt. In dieser Zeit sind sie oft komatös, müssen künstlich beatmet und ernährt werden. Nach Sauerstoffmangel treten oft starke Muskelzuckungen (Myoklonien) auf.

Danach kommt es zu einer Stabilisierung der körperlichen Funktionen. In dieser Übergangszeit von einigen Wochen bestehen oft massiv erhöhter Blutdruck, Schwitzen, Herzrasen usw. als Zeichen einer Störung des vegetativen Nervensystems. Die entsprechenden Symptome werden zumeist mit entsprechenden Medikamenten behandelt. Demgegenüber wird meist die Unabhängigkeit von der künstlichen Beatmung als Zeichen einer Stabilisierung der Hirnstammfunktionen betrachtet. Danach kann der Patient die Intensivstation verlassen. Auch die Wachheit etabliert sich meist in diesem Zeitraum.

Schließlich kann es entweder zu einer mehr oder weniger guten Erholung der Hirnfunktionen kommen oder sich das Bild eines permanent vegetative state entwickeln. Dabei sind die Betroffenen tagsüber oft wach, öffnen die Augen, ohne etwas anzusehen, haben teilweise bestimmte Bewegungsmuster (z. B. schablonenhafte Bewegungen von Gesicht oder Mund). Folgende Erscheinungen gelten als typisch:

Diagnose

Die Feststellung eines apallischen Syndroms erfolgt in erster Linie klinisch, also durch persönliche Untersuchung und Beobachtung des Betroffenen. Voraussetzung ist eine ausreichende Erfahrung der untersuchenden Person in der Beurteilung schwerer neurologischer Defektsyndrome. Der Beobachtungszeitraum erstreckt sich über Wochen bis Monate.

Unterstützend ist eine apparative Diagnostik sinnvoll. Dazu gehören Kernspintomographie (MRT), Elektroenzephalogramm (EEG) und evozierte Potentiale (somatisch evozierte (SEP), eventuell auch akustisch evozierte (AEP) und ereigniskorrelierte Potentiale). Diese ermöglichen teilweise schon in der Frühphase eine Abschätzung der Prognose (s. u.). Keine dieser Untersuchungen ist allein geeignet, die Diagnose zu stellen.

Wichtig sind in erster Linie die Abgrenzung gegen äußerlich ähnliche Krankheitsbilder wie Koma, Locked-in-Syndrom oder behandelbare andere neurologische oder psychiatrische Erkrankungen. Bei entsprechender Erfahrung fällt lediglich die Abgrenzung gegen einen sogenannten „minimally conscious state“ schwer, da hier ein fließender Übergang besteht. Es handelt sich ebenfalls um eine schwere Hirnschädigung, bei der jedoch einfache bewusste Reaktionen (z. B. Erkennen von Angehörigen) funktionieren.

Fehldiagnosen sind allerdings nicht selten: Eine britische Studie (Andrews et. al. (1996)) mit 40 Patienten stelle fest, dass unter ihnen 43% mit dem Apallischen Syndrom fehldiagnostiziert wurden. Unter diesen befanden sich weiterhin 7 Patienten, die bereits über ein Jahr unter der falschen Diagnose gelitten hatten, drei von ihnen mehr als vier Jahre. Im Rahmen der richtiggestellten Diagnose wiesen alle genügend kognitive Funktion auf, um dem Pflegepersonal Wünsche über ihre Lebensumstände zu kommunizieren.

Therapie

Die Behandlung orientiert sich an den Phasen der Neurologischen Frührehabilitation. Dabei steht zunächst die Akutbehandlung (Phase A) im Mittelpunkt. In dieser Zeit werden zumeist ein Luftröhrenschnitt (Tracheotomie), eine Ernährungssonde durch die Bauchwand (PEG) und oft auch eine Urinableitung durch die Bauchwand (SPDK) angelegt, um die Lebensfunktionen zu sichern und eine optimale pflegerische Versorgung zu ermöglichen (einschließlich Ernährung). Bereits während dieser Zeit sollten allerdings rehabilitativ orientierte Angebote mittels Physiotherapie gemacht werden. Dadurch lassen sich Kontrakturen oder Lungenentzündungen vermeiden sowie die Schluckfunktion verbessern. Die Funktion des Schluckens ist nach Beendigung der maschinellen Beatmung entscheidend dafür, ob die Trachealkanüle entfernt werden kann.

Nach Abschluss der Akutbehandlung schließt sich die Frührehabilitation der Phase B an. Das Therapieangebot wird dabei um Ergotherapie und Neuropsychologie erweitert. Zusätzlich kann Musiktherapie eingesetzt werden. Ziel ist die Verbesserung motorischer, geistiger und psychischer Funktionen. Die Behandlung muss im Team unter ärztlicher Leitung erfolgen, dies wird auch von den Kostenträgern gefordert und nachgeprüft. Weitgehend durchgesetzt hat sich das Konzept der Basalen Stimulation, welches in einem integrierten pädagogischen und pflegerischen Konzept eine dem Schädigungsmuster angepasste Wahrnehmung der Umwelt und Unterstützung einfacher Körperfunktionen (z. B. Bewegungen) vermitteln soll.

In dieser Phase, die zwischen einem Monat und einem Jahr dauert, entscheidet sich die Prognose des Betroffenen. Kommt es zu einer merklichen Verbesserung physischer und psychischer Leistungen, so können weitere Phasen der Rehabilitation angeschlossen werden (Phasen C/D/E). Bleibt er jedoch bewusstlos, muss zur Phase F (dauerhafte „Aktivierende Behandlungspflege“) übergegangen werden.

Therapieabbruch

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Grundsätzlich hat jeder Mensch das Recht, eine solche Therapie ganz oder teilweise abzulehnen und in einem solchen Fall sterben zu wollen. Da der Betroffene aber seinen Willen nicht vertreten kann (genau genommen zu keiner Willensäußerung fähig ist), ist die Festlegung des Willens in einer entsprechenden Verfügung (Patientenverfügung) sinnvoll, welche zu einer Zeit erfolgt, in der der Verfügende noch einen Willen bilden kann. In einer solchen Patientenverfügung darf auch eine bestmögliche Therapie festgelegt werden. Ansonsten muss für den Betroffenen eine rechtliche Betreuung (früher Vormundschaft) eingerichtet werden. Die Aufgabe des Betreuers besteht darin, den mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu eruieren z. B. in Gesprächen mit nahen Angehörigen und Freunden oder bisher behandelnden Therapeuten, um ihn danach den aktuell behandelnden Ärzten vorzutragen. Bei Übereinstimmung von mutmaßlichem Willen des Betreuten mit dem Arzturteil kann dem mutmaßlichen Willen nach Behandlung oder Abbruch der Behandlung entsprochen werden. Bei Nicht-Übereinstimmung muss zur Entscheidungsfindung das Betreuungsgericht angerufen werden, § 1904 IV BGB. Der Begriff "Therapieabbruch" sollte vermieden werden. Bei unheilbar kranken Menschen steht die kurative Behandlung hinter der palliativen Betreuung zurück. Daher spricht man besser von einer Änderung des Therapieziels.

Prognose

Insgesamt liegt die Chance auf Erholung aus dem apallischen Syndrom weit unter 50 %. Die Statistiken sind problematisch, weil oft die Diagnosen am Anfang nicht ausreichend sicher fundiert waren. Als günstiger gilt die Prognose bei:

  • jungen Menschen
  • traumatischer Hirnschädigung (im Gegensatz zu Hypoxie oder Ischämie)
  • kurzer Dauer des Koma am Anfang (<24 Stunden)

Demgegenüber gibt es mehrere Befunde, die für höchstwahrscheinlich fehlende Besserung sprechen:

Im Einzelfall sollte zunächst behandelt werden (s. o.). Eine Besserung ist bei nichttraumatischer Hirnschädigung nach drei Monaten, bei traumatischer Hirnschädigung nach zwölf Monaten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Auch bei Besserung des Zustandes bleibt die Mehrzahl der Betroffenen ein Leben lang auf fremde Hilfe angewiesen.

Soziales

Angehörige

Bis zu 70 % der Wachkomapatienten werden zu Hause in der Familie gepflegt. Dies scheint umso mehr wünschenswert, als die Grenze zum minimally conscious state nicht mit letzter Sicherheit zu ziehen ist und emotionale Reaktionen am ehesten zu erwarten wären. Mit entsprechender professioneller Unterstützung (ambulante Pflegedienste) ist dies oft für die Familien physisch und psychisch zu bewältigen.

Schulpflicht

Bei Kindern im apallischen Syndrom bleibt die Schulpflicht bestehen. Aufgrund der Schwere der Hirnschädigung ist jedoch ein Regelschulunterricht ausgeschlossen.

Kommunikation

Obgleich das Wachkoma eigentlich durch das Fehlen von Bewusstsein und Äußerungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist, mehren sich in den letzten Jahren die Befunde von Forschern, die über kommunikative Zugänge zu diesen Patienten berichten (vgl. z. B. Zieger 2001). Kommunikation setzt Wahrnehmung und Orientierung voraus, die wiederum essentielle Bestandteile des Bewusstseins sind. In der nonverbalen Kommunikation mit Menschen in der Langzeitphase des Wachkomas (> 18 Monate) konnte die Existenz solcher Bewusstseinsmerkmale aufgezeigt werden (vgl. Herkenrath 2006). Untersuchungen einer britischen Forschergruppe konnten jüngst sogar Belege dafür beibringen, dass bei manchen Wachkoma-Patienten ein Bewusstsein für sich selbst und ihre Umgebung besteht (Owen et al. 2006). Niels Birbaumer (2005) konnte mit seiner Arbeitsgruppe in den vergangenen Jahren Hinweise darauf finden, dass die Lebensqualität von Menschen im Wachkoma vermutlich weitaus höher ist, als man „von außen“ vermutet.

Siehe auch

Literatur

  • Andrews, K.; Murphy, L.; Munday, R.; Littlewood, C. (1996): "Misdiagnosis of the vegetative state: retrospective study in a rehabilitation unit". In: British Medical Journal 313 (7048): 13–16. doi:10.1136/bmj.313.7048.13
  • Birbaumer, N.: Nur das Denken bleibt − Neuroethik des Eingeschlossenseins. In: Engels, E.-M., Hildt, E. (Hrsg.): Neurowissenschaften und Menschenbild. Mentis Verlag, Paderborn 2005
  • Bock, Wolfgang J.: Bewusstlos. Herausforderung für Angehörige, Pflegende und Ärzte. Verlag Selbstbestimmtes Leben (2000). ISBN 3-910095-20-8.
  • Herkenrath, A: Musiktherapie mit Menschen in der Langzeitphase des Wachkomas − Aspekte zur Evaluation von Wahrnehmung und Bewusstsein. In: Neurologie & Rehabilitation 2006; 12(1): S. 22–32
  • Lipp, Axel: Klinische Kriterien zur Diagnose des Apallischen Syndroms (Dissertation)
  • Claudia Mittermayer: Die Pflege des beatmeten Menschen. Brigitte Kunz Verlag, 2005. ISBN 3-89993-421-0
  • Nacimiento, Wilhelm: Das apallische Syndrom: Diagnose, Prognose und ethische Probleme. (Dt. Ärzteblatt, 1997); Diskussion zum Artikel
  • Nydahl, Peter: Wachkoma. Urban und Fischer (2005) ISBN 3-437-27080-X.
  • Owen, A. M. et al.: Detecting Awareness in the Vegetative State. Science 8 September 2006: Vol. 313. no. 5792, p. 1402
  • Student, J.-C., Napiwotzky, A. (Hrsg.): Was braucht der Mensch am Lebensende? − Ethisches Handeln und medizinische Machbarkeit. Kreuz Verlag, Stuttgart 2007
  • Zieger, Andreas: Dialogaufbau und ästhetische Haltung − auf dem Wege zu einer neuen solidarischen Haltung durch Trialog-Entwicklung aus beziehungsmedizinischer Sicht. In: Doering, W., & Doering, W. (Hrsg.): Von der Sensorischen Integration zur Entwicklungsbegleitung. Von Theorien und Methoden über den Dialog zu einer Haltung. Dortmund: Borgmann Publ. 2001, S. 258–328
  • Wolfram Höfling (Hrsg.): Das sog. Wachkoma. Rechtliche, medizinische und ethische Aspekte., Lit-Verlag Münster; 2. unveränderte Auflage, Mai 2007; ISBN 3-8258-8894-0
  • Adam Geremek: Wachkoma. Medizinische, rechtliche und ethische Aspekte, Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2009, ISBN 978-3-7691-1243-6

Filme

  • SWR: Das besondere Lernen − Denn die Seele kennt kein Koma
  • Arte: Die heilende Sprache der Pferde

Einzelnachweise

  1. Raimund Firsching, Andreas Ferbert: Traumatische Schädigungen des Nervensystems W. Kohlhammer Verlag, 2007, ISBN 978-3170191808, S. 129

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