Gentherapie


Als Gentherapie bezeichnet man das Einfügen von Nukleinsäuren wie DNA oder RNA in die Körperzellen eines Individuums, um beispielsweise eine Krankheit zu behandeln[1]. Klassischerweise soll ein intaktes Gen in das Genom der Zielzelle eingefügt werden, um ein defektes Gen zu ersetzen, welches ursächlich für die Entstehung der Krankheit ist. Beim Menschen wurden und werden Gentherapien teilweise erfolgreich z.B. in Rahmen von klinischen Studien durchgeführt. Am 1. November 2012 erfolgte die Zulassung des ersten Gentherapeutikums Glybera (Alipogen Tiparvovec) durch die Europäische Kommission,[2] für die USA ist die Zulassung beantragt. Innerhalb Europas gehören Gentherapeutika zur Gruppe der Arzneimittel für neuartige Therapien.

Prinzip

Üblicherweise werden dem Körper einige Zellen entnommen, um diesen im Labor (in vitro) die entsprechenden Nukleinsäuren einzufügen. Anschließend können die Zellen zum Beispiel vermehrt werden, um dann wieder in den Körper eingebracht zu werden. Eine Gentherapie kann auch direkt im Körper (in vivo) erfolgen. Je nach Art der Gentherapie und der verwendeten Technik kann die Nukleinsäure in das Zellgenom integrieren oder lediglich zeitweise in der Zelle verbleiben. Entsprechend kann der therapeutische Effekt dauerhaft oder zeitlich beschränkt bestehen.

Methoden

Für den Transfer gibt es verschiedene Methoden, um eine therapeutische Nukleinsäure in eine Zelle zu transportieren:

  • Transduktion: Mit dieser am häufigsten verwendeten Methode bringt ein viraler Vektor (ein modifiziertes Virus) die therapeutische Sequenz in die Zelle.
  • Transfektion (chemisch): Die Nukleinsäure und eine elektrisch geladene Verbindung (z. B. Calciumphosphat) werden zu den Zellen gegeben. Die elektrisch geladene Verbindung bindet an die Zellmembran und wird endozytiert, wodurch der Vektor nach Perforation der endosomalen Membran ins Zytosol gelangen kann.
  • Transfektion (physikalisch): Bei der Elektroporation macht ein Stromstoß die Zellmembran vorübergehend durchlässig, so dass der Vektor in die Zelle eindringen kann.
  • Transfektion (physikalisch): Die Mikroinjektion bietet hohe Chancen für einen erfolgreichen Einbau des Gens (ca. 1:5), jedoch muss jede Zelle einzeln behandelt werden.

Beschränkungen & Risiken

Das Ersetzen und dauerhafte Einfügen eines intakten Gens in Form von DNA hat nur bei sogenannten monogenetischen Erkrankungen Aussicht auf Erfolg. Erkrankungen, die durch komplexere genetische Schäden ausgelöst werden, wie zum Beispiel Krebs, können mit Gentherapie nicht ursächlich behandelt werden. Eine mögliche Gentherapie darf nur in somatischen (nicht die Keimbahn betreffenden) Zellen durchgeführt werden, damit die neue genetische Information nicht an die Kinder des behandelten Individuums weitergegeben werden kann. Dieses ist eine gesetzliche Beschränkung, basierend auf ethischen als auch die Sicherheit betreffenden Gesichtspunkten. Das größtmögliche Risiko der Gentherapie ist eine ungerichtete Integration der Nukleinsäure an unpassender Stelle innerhalb des Genoms der Wirtszelle. Da eine Integrationsstelle bisher nicht vorhersehbar ist, können andere vorher intakte Gene in ihrer Funktion gestört werden. Im schlimmsten Fall könnte der therapeutische Nutzen des neuen Gens durch eine neue evtl. schwerere Krankheit, bedingt durch die Störung eines vorher intakten Gens, ersetzt werden.

Derzeit beschränken sich gentherapeutische Ansätze in der Praxis auf zwei verschiedene Zelltypen: zugängliche Stammzellen und langlebige, ausdifferenzierte, postmitotische Zellen. Je nach Zelltyp kommen verschiedene Methoden der Gentherapie zum Einsatz. [3]

Körperzellen, die für eine Gentherapie mit Retroviren als Vektor in Frage kommen, müssen bestimmte Anforderungen erfüllen:

  • Sie müssen widerstandsfähig genug sein, um die „Infektion“, besonders aber die Entnahme aus und die Wiedereinpflanzung in den Körper zu überstehen
  • Sie müssen leicht entnehmbar und wieder einsetzbar sein
  • Sie sollten langlebig sein, damit sie das neue Protein über lange Zeit hinweg produzieren können

Folgende Zelltypen haben sich als geeignet erwiesen:

  • Hautzellen: Fibroblasten aus der Lederhaut (nicht mehr aktuell)
  • Leberzellen
  • T-Zellen: T-Lymphozyten (zirkulierende weiße Blutkörperchen) sind für die zelluläre Immunantwort zuständig. Das Fehlen des Gens für Adenosindesaminase (ADA), das zu einem „schweren kombinierten Immundefekt“ (SCID) führt, wird durch entsprechende Behandlung dieser Zellen therapiert. Eine weitere Therapiemöglichkeit ist ein Defekt in der gemeinsamen Kette einiger Interleukinrezeptoren, X-SCID.
  • Knochenmarksstammzellen: Sie produzieren die roten und weißen Blutkörperchen. Durch Gentherapie der seltenen Stammzellen lassen sich genetisch bedingte Krankheiten des Blutes und des Immunsystems behandeln. So ließe sich z. B. die Beta-Thalassämie (ein Mangel an β-Globin führt zu Blutarmut) durch Einbau einer „Verstärkersequenz“ in Stammzellen behandeln.

Anwendungen am Patienten

In der von The Journal of Gene Medicine bereitgestellten Datenbank Gene Therapy Clinical Trials Worldwide werden über 1500 klinische Studien gelistet, die bisher genehmigt wurden [4](Stand 2010).

Therapie von SCID

Am 14. September 1990 wurde von Ärzten des US-amerikanischen Bundesgesundheitsinstituts an einem vierjährigen Mädchen die weltweit erste gentherapeutische Behandlung durchgeführt. Die Patientin Ashanti DeSilva litt an einem schweren kombinierten Immundefekt (SCID), einer sehr seltenen Krankheit (Inzidenz 1:100.000), verursacht durch einen schweren Defekt sowohl des T- als auch des B-Lymphozytensystems. Bei von diesem Defekt betroffenen Patienten ist das Immunsystem in seiner Funktion erheblich bis vollständig beeinträchtigt, d. h. es gibt wenig oder gar keine Immunantwort - schon eine Erkältungskrankheit kann für die Kinder den Tod bedeuten. Die Gentherapie, die aufgrund der begrenzten Lebensdauer der Leukozyten mehrmals im Jahr wiederholt werden muss, ermöglicht den Patienten ein Leben ohne strikte Quarantäne. Der Gentherapie an Ashanti DeSilva ging ein dreijähriges Genehmigungsverfahren voraus.

Die von den Symptomen her identische Erkrankung X-SCID, die auf Grund von Mutationen in der gemeinsamen Kette einiger Interleukinrezeptoren auftritt (γc, CD132), wurde ebenfalls mit einem gentherapeutischen Ansatz von Alain Fischer in Paris behandelt. Nachdem die Behandlung zunächst größtenteils erfolgreich verlief, traten bei einigen Patienten nach einiger Zeit Leukämien auf (Näheres siehe X-SCID).

Fall Jesse Gelsinger

Einen der fatalsten Rückschläge erfuhr die Gentherapie im Jahre 1999. Bei einer von der Universität von Pennsylvania durchgeführten, von James M. Wilson geleiteten Versuchsreihe, bei der der damals 18-jährige Jesse Gelsinger teilnahm, kam es zu schwerwiegenden Komplikationen. Jesse Gelsinger litt am angeborenen Ornithin-Transcarbamylase-Defizit. Er nahm in der letzten von sechs Versuchsstufen als Proband teil. Die am 13. September 1999 bei ihm injizierte Dosis der als Träger verwendeten Adenoviren lag bei 38 Billionen Partikeln. Das ist bedeutend mehr, als bei einer natürlichen Infektion übertragen werden. Der Zustand Gelsingers verschlechterte sich nach der Injektion sehr schnell, so dass er in Folge dessen am 17. September 1999, 14:30 Uhr Ortszeit an einem Multiorganversagen verstarb. Jesse Gelsinger war zu diesem Zeitpunkt der weltweit sechste, offiziell gemeldete Tote, der durch eine bei Gentherapie-Versuchen angewandten, künstlichen Infektion mit Adenoviren verstorben ist. In jedem dieser sechs Fälle soll nach Einschätzung der entsprechenden Versuchsleitung die Grunderkrankung die Ursache für den eingetretenen Tod gewesen sein.[5]

Dem leitenden Arzt James M. Wilson wurde im Anschluss dieses Versuches von der Gesundheitsbehörde der USA jede weitere Forschung am Menschen untersagt. Unter anderem, weil Voraussetzungen, die für einen Versuch am Menschen vorgegeben waren, bewusst nicht eingehalten wurden. So war der Gesundheitszustand von Jesse Gelsinger zu Beginn des Versuches zwar stabil, allerdings überschritten seine Leberwerte die von der Gesundheitsbehörde vorgegebenen Höchstwerte.

Einzelnachweise

Literatur

  • Gene Therapy Clinical Trials Worldwide Übersichtsdatenbank über die bisher durchgeführten und laufenden klinischen Gentherapiestudien
  • Scientific American, November 1990, Inder M. Verma, "Gene Therapy"
  • D.T. Suzuki et al.: Genetik. VCH Verlag, 1991
  • Benjamin Lewin: Genes V. Oxford University Press, 1994
  • Deutsches Ärzteblatt 2003; 100: A 314–318 [Heft 6]
  • Human Gene Therapy, September 2005, 16:1014, Gendicine: The First Commercial Gene Therapy Product ([1] und [2])
  • A.M. Raem et al.: Genmedizin, Eine Bestandsaufnahme. Springer-Verlag 2001
  • Stellungnahme der DFG zur Entwicklung der Gentherapie, Dezember 2006 (PDF) (236 kB)
  • C. Baum et.al.: Side effects of retroviral gene transfer into hematopoietic stem cells. In: Blood, 101/2003, S. 2099–2114.
  • P.A. Horn et. al.: Stem cell gene transfer--efficacy and safety in large animal studies. In: Molecular Therapy 10/2004, S. 417–431.
  • Ferdinand Hucho et al.: Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Dornburg, 2008. ISBN 978-3-940647-02-3.
  • Boris Fehse, Silke Domasch (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Dornburg, 2011. ISBN 978-3-940647-06-1. (2., aktualisierte und erweiterte Auflage). (Download Kurzfassung als PDF)

Siehe auch

Weblinks

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